Pestizideinsatz in Nicaragua: Bitteres Zuckerrohr, bitterer Rum
Viele Arbeiter von Nicaraguas größter Zucker- und Rumfabrik "Flor de Caña" haben chronische Niereninsuffizienz. Mit einer Klagewelle verlangen sie nun Entschädigung.
Blechern schallt die Stimme des Lautsprecherwagens durch die Straßen von Chichigalpa: "Salvador Urtecho Romero ist von uns gegangen. Seine Familie lädt für drei Uhr Nachmittag zur Bestattung ein." Wieder und wieder wird die Durchsage wiederholt. So ist es Brauch in Nicaragua. In Chichigalpa, einem Städtchen mit 40.000 Einwohnern rund 130 Kilometer nordwestlich von Managua, hört man sie öfter. Die Menschen hier sterben schnell, und sie sterben vor allem an einer Krankheit: chronischer Niereninsuffizienz. Auch Salvador Urtecho Romero ist diesem Leiden erlegen.
Die pazifische Küstenebene rund um Chichigalpa ist fruchtbar. Reis wird hier angebaut und Zuckerrohr. Das feucht-heiße, tropische Klima ist ideal für solche Plantagen. Seit 1890 betreibt hier die Nicaragua Sugar Estate Limited die Zuckerfabrik San Antonio, die größte im Land. Seit 1954 gibt es dazu noch die Compañía Licorera de Nicaragua, das Stammhaus von "Flor de Caña", einem der besten Rums der Welt. Zuckerwerk und Rumfabrik gehören der wirtschaftlich mächtigsten Familie Nicaraguas: den Pellas. 17 Firmen umfasst ihr Imperium.
"Alle, die in der Zuckerfabrik San Antonio arbeiten, haben diese Krankheit", sagt Oscar Ernesto Bolaños. Er steht am Fenster des Gesundheitszentrums und lässt sich seine Ration Tabletten reichen, die er jeden zweiten Monat bekommt. Bolaños ist 52. Seit fünf Jahren ist er Rentner. Er konnte einfach nicht mehr: Erschöpfungszustände, häufiges Fieber, Muskelschmerzen. "Ich kann mich kaum noch bewegen, ab zwölf Uhr mittags ertrage ich kein Licht mehr", sagt er. "Urtecho Romero, dessen Beerdigung sie da ankündigen, der hat mit mir zusammengearbeitet."
Im regierungsunabhängigen Nicaraguanischen Zentrum für Menschenrechte (CENIDH) gingen die ersten Klagen über Nierenbeschwerden von Arbeitern der Gruppe Pellas bereits 1996 ein. Bayardo Izabá, der Leiter des CENIDH-Büros in Managua, erinnert sich noch daran. Er habe den Arbeitern geraten, nach den Ursachen zu forschen und keine Bestechungsgelder zu akzeptieren. "Aber die Firma schob ihnen 50.000 Cordobas zu (5.000 US-Dollar), und die Sache verlief im Sande."
Erst Ende 2000 wurde das Ausmaß der Erkrankungen offenbar. Das Gesundheitszentrum von Chichigalpa veröffentlichte seine Jahresstatistik: 6.081 Fälle von chronischer Niereninsuffizienz. 2007 reichte der Friedhof für die Toten nicht mehr, die Stadtverwaltung legte einen neuen an. "Die Hälfte der Toten hatte das Nierenleiden", sagt der Friedhofswärter.
Alle wussten, dass die Krankheit mit der Zucker- und Rumfabrik zusammenhängt. Ein paar Arbeiter hatten geklagt, zogen aber 2003 ihre Klage zurück, nachdem sie von Pellas 2,5 Millionen Dollar erhalten hatten. "Das war keine Entschädigungszahlung", sagt Ariel Granera, der Sprecher der Pellas-Gruppe. "Die Zuckerfabrik San Antonio investiert sehr viel in die Gesundheit und Bildung ihrer Arbeiter. Wir nehmen unsere soziale Verantwortung ernst."
Seit drei Jahren liegt nun eine neue Klage bei den Gerichten. 317 ehemalige Arbeiter der Pellas-Gruppe haben sich zur "Nicaraguanischen Vereinigung der Opfer chronischer Niereninsuffizienz" (ANAIRC) zusammengeschlossen. Ein paar von ihnen sind inzwischen gestorben. Für sie fordern nun Witwen und Kinder Entschädigung. Laut ANAIRC gab es bislang mindestens 3.700 Tote, rund 8.000 Menschen seien von der Krankheit betroffen. Firmensprecher Granera bestreitet das.
ANAIRC ruft zum Boykott von "Flor de Caña" auf und nutzt dazu auch das Internet. Das Unternehmen reagierte darauf mit einem Dutzend Internetseiten, auf denen die Pellas-Gruppe ihre "Wahrheit über chronische Niereninsuffizienz" verbreitet. 1.800 weitere Kranke haben sich von Pellas bereits wieder einkaufen lassen, und das viel billiger als die ersten Kläger: Sie bekommen monatlich ein Lebensmittelpaket - mehr nicht. Das sei ja auch keine Entschädigung, sagt Granera. "Wir sind davon überzeugt, dass wir nichts mit der Krankheit zu tun haben." Die Firma habe in den USA bei der Universität Boston ein Gutachten über die Ursachen der Krankheit in Auftrag gegeben. "Warten wir ab, was die zu sagen haben."
Hinter der Fabrik beginnen die endlosen Zuckerrohrplantagen, die erst durch die Kette von Vulkanen am Horizont begrenzt werden. Im September, wenn die Frucht mehr als drei Meter hoch steht, beginnt die Blüte: Filigrane weiße Rispen an der Spitze der Rohre, die in der Sonne glitzern - ein Postkartenbild. Die Blütezeit gab dem Rum seinen Namen: Flor de Caña. Seit es Klagen gegen die Pellas-Gruppe gibt, kann man nicht mehr einfach über die Felder spazieren. Die Zahl der Wächter wurde vervielfacht.
Bis 1997 lebten viele Arbeiter mit ihren Familien auf den Plantagen. Nach der ersten Klage wurden sie von der Firma ohne weitere Erklärung in die Stadt umgesiedelt. Die Arbeiter sagen, dass der massive Einsatz von Pestiziden seit Beginn der 1960er Jahre das Grundwasser verseucht hat. Das nicaraguanische Institut für Stadtentwicklung stellte in einer Studie fest, dass Chichigalpa über "die produktivsten Böden des Landes" verfügt. Allerdings seien Grund- und Oberflächenwasser mit Nitrat und dem Pestizid Toxaphen verseucht, "ein Ergebnis des massiven Einsatzes von Chemie in der dortigen Landwirtschaftsindustrie".
"Wir produzieren unser Zuckerrohr umweltfreundlich", sagt Granera in seinem Büro in einem der wenigen Hochhäuser der Hauptstadt Managua. Die Firma investiere viel in biologische Schädlingsbekämpfung und in erneuerbare Energie, die aus den ausgepressten Zuckerrohren gewonnen werde.
600 Meter von seinem Büro entfernt, am Rand einer großen Ausfallstraße, haben 120 Mitglieder von ANAIRC ein Camp aus schwarzen Plastikplanen errichtet. Seit eineinhalb Jahren sind sie hier, um Druck auf Politiker auszuüben. Der Staat bezahlt den Kranken eine kleine Rente. Aber es gibt keine Ermittlungen gegen Pellas und schon gar keine Auflagen oder Strafen.
Mitten im Verkehrslärm erzählen die ehemaligen Arbeiter im Camp von den langen Arbeitstagen, die nötig waren, um die vorgegebene Norm zu erfüllen. Getrunken habe man oft aus dem Fluss, weil anderes Wasser nicht zur Hand war. Manche hielten den Job vierzig Jahre lang durch. Sie erzählen, wie lässig man früher mit den Agrogiften umging, dass niemand Handschuhe benutzte und es auch sonst keinen Schutz gab.
Heute verlassen sie das Camp nur, um ihre Rente abzuholen oder eine neue Ration Medikamente. Wenn um 18 Uhr die Nacht über Managua hereinbricht, wird gleich hinter ihnen eine große Leuchtreklame angeknipst: "Flor de Caña - der Stolz Nicaraguas".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Biden hebt 37 Todesurteile auf
In Haftstrafen umgewandelt
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten