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PerspektivenIrritation, Erkenntnis – und blöder Witz

Die gelungene Ausstellung „Ein Schelm...“ in Bremen des­orientiert im allerbesten Sinne.

Ein Orientierungspunkt der patriarchalen Gesellschaft verschwindet – wie von Frauenhan. Foto: Künstlerhaus Bremen

BREMEN taz | Gleich beim Betreten wird es existenziell: Man verliert sich in der Ausstellungshalle, sucht sich und findet sich schließlich wieder – in veränderter Form. Das heißt, man fühlt sich schon noch und kann auch noch denken, muss man ja auch, um sich solcherlei Fragen stellen zu können. Aber die Integrität, also die Einheit der eigenen Person, ist doch verletzt. Denn gegenüber der Eingangstür steht hochkant ein dreiteiliger Klappspiegel. Eine Arbeit der US-amerikanischen Künstlerin Megan Francis Sullivan, entstanden 2014, Titel: „The J-Board“.

Die eintretenden Personen sehen sich darin aber nicht sofort, die Flügel sind entsprechend gedreht. Ob das nun Absicht ist oder Zufall, spielt keine Rolle. Erst wenn man näher kommt, taucht man jedenfalls im Spiegel auf, verzerrt, mit kleinem Kopf und kugeligem Oberkörper. Da wäre man dann also, „ich“, oder englisch „I“. Das Selbstbild konstituiert sich immer auch durch ein Außen. Auch wenn es anders ist, als gewohnt. Ohne den Spiegel scheint hier etwas ganz Zentrales zu fehlen an diesem „I“.

Da kommt das „J“ von Sullivans Spiegelapparatur ins Spiel: Während die verspiegelte Vorderseite die „I“-Seite darstellt, ist die hölzerne Rückseite mit „J“ betitelt. Auf „I“ folgt im Alphabet das „J“, ganz klar. Auf der „J“-Seite indes finden sich einige Aufkleber von „J“-Worten, auch eine Jamaika-Fahne oder gar der Schauspieler Michael J. Fox. Kein „I“ ohne „J“. So dumm, so lustig – und so wahr.

Allein diese Arbeit zieht einen hinein in einen Prozess, in dem man sich gerne täuschen lässt und sich am Ende in einer Gemengelage aus Irritation, Erkenntnis und blödem Witz gegenüber sieht. Eigentlich ist damit bereits der Kern der erstaunlich interessanten und vielseitigen Ausstellung im Bremer Künstlerhaus beschrieben. „Ein Schelm, wer böses dabei denkt“, so lautet der passend umständlich formulierte Titel. Passend deshalb, weil hier nicht nur die eingangs beschriebene Spiegelarbeit um mehrere Ecken gedacht werden muss.

Der Schelm im Titel bildet gewissermaßen ganz wörtlich den Ausgangspunkt der Ausstellung, konzipiert von der Direktorin des Künstlerhauses, Fanny Gonella, gemeinsam mit Stephanie Seidel. Im 16. Jahrhundert entstand der sogenannte Schelmenroman. Diese Gattung kommt ursprünglich aus Spanien, wird so auch als pikaresker Roman bezeichnet, vom spanischen „pícaro“, dem Gauner oder, eben, Schelm.

Außerhalb der Konvention

Im Mittelpunkt solcher Romane steht stets eine aus ärmlichen Verhältnissen stammende Figur, die – paradoxerweise – gerade aufgrund ihrer Unbedarftheit und Naivität in der Lage ist, Wahrheiten auszusprechen. Diese Figur steht durch ihre gesellschaftliche Stellung, aber auch ihre geistige Beschränktheit, jenseits zentraler Konventionen. Die in Deutschland bekannteste derartige Figur ist vermutlich Till Eulenspiegel.

Das Schelmenprinzip greift bei Arbeiten wie Sullivans Spiegel auf eine wirklich schöne Art. Die Arbeit geht dabei in der Idee weder auf noch unter. Sie behält ihr Eigenleben, auch gegenüber These oder Thema. Das ist in Gruppenausstellungen selten, in diesem Haus allerdings ganz normal. Nun schlägt die Ausstellung aber noch einen weiteren Haken: Anstelle der für den Schelmenroman typischen Männerfiguren haben die beiden Kuratorinnen ausschließlich Künstlerinnen eingeladen. Dies soll den Schelm ins 21. Jahrhundert hieven, so die Idee: Insbesondere aufgrund der Darstellung von fragmentierter Subjektivität, heißt es im Ausstellungstext, „erhält der Schelmenroman in der heutigen globalisierten und sich ständig verändernden Umwelt eine neue Relevanz. Daraus folgend ergibt sich die Frage, wie sich diese (Anti-)Heldin mittels widerständigen Strategien durch eine ökonomisierte, digitale und vor allem scheinbar durch und durch kontrollierte Alltagswelt manövrieren kann“.

Feministische Perspektive

Zum ersten Mal in größerem Stile aus feministischer Perspektive verfolgt wurden solche Strategien in den 70er-Jahren: Von 1977 stammt eine Arbeit der britischen Künstlerin Alexis Hunter, die nun in Bremen zu sehen ist. „Approach to Fear: XVII: Masculanisation of Society – exorcise“ besteht aus einer Bilderfolge, in der ein muskulöser Männerkörper mit erigiertem Penis nach und nach von einer Frauenhand mit schwarzer Farbe überdeckt wird. Eine zentrale Autorität, ein zentraler Orientierungspunkt der patriarchalen Gesellschaft wird zum Verschwinden gebracht. Das ist, wie wenn man Verkehrsschilder überklebt oder umdreht. Man weiß dann erst nicht mehr, wo man ist – erst auf die Desorientierung kann eine Neuorientierung folgen.

Ebenfalls von Megan Francis Sullivan stammt die Plastik „Dog Table (for Lutz Bacher)“ aus dem Jahr 2015: ein lebensgroßer Dalmatiner aus Porzellan, der auf seinem Kopf eine gläserne Tischplatte trägt. Die Arbeit wird interessant, wenn man erfährt, dass Sullivan beim Googeln des eigenen Namens stets zuerst auf Bilder einer Dalmatinertischplastik der bekannten amerikanischen Künstlerin Lutz Bacher stieß. Nachdem also die Internetsuchmaschine Sullivans Namen der Hundeplastik zugeordnet hatte, ordnete die Künstlerin kurzerhand die Plastik ihrem Namen zu.

Eine sehr viel direktere Auseinandersetzung mit geschlechtlichen Rollenzuschreibungen stellt die unbetitelte Videoskulptur der amerikanischen Künstlerin Shana Moulton dar: Auf den breit ausgepolsterten Hintern einer weiblichen Modepuppe projiziert sie ein Werbevideo der Sängerin Shakira.

Dass das Schelmentum mit seinen Freiheiten der Kunst verwandt ist, überrascht wenig. Dass man gegenüber dem Schelmen die Schelmin so wenig im Blick hat, hingegen schon.

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