: Permanente Selbstinszenierung
Die Verführer des „braven Bürgers“ heißen heute ganz anders: Oberspielleiter Andreas Kriegenburg inszeniert zur Thalia-Spielzeiteröffnung Lessings bürgerliches Trauerspiel „Miss Sara Sampson“
Unzählige Menschen verfolgen täglich auf MTV das Leben, Lieben und Leiden der Familie Osbourne. Eigentlich eine ganz normale Familie mit Mann, Frau, Kindern und Haustieren in bürgerlichem Ambiente. Dabei steht Altrocker Ozzy Osbourne für alles Abgründige: Exzess, Verwahrlosung, Verfall.
Die bizarre Homeshow ist Symptom einer sehr zeitgemäßen Sehnsucht, neben der bürgerlichen Existenz die eigenen Untiefen auszuleben. So zumindest interpretiert Regisseur Andreas Kriegenburg das Phänomen Osbourne und sieht sich mit den Probenarbeiten zu Miss Sara Sampson auf der Höhe der Zeit.
An diesem Wochenende wird der Oberspielleiter am Thalia Theater mit dem Lessing-Stück die neue Spielzeit eröffnen. Der Aufklärer reizt ihn schon lange. „Es ist mit einer neuen Sicht auf einen Klassiker einfacher, sich in der guten Stube des Bürgers danebenzubenehmen, weil alle Leute zu wissen meinen, wie man ihn zu erzählen hat“, erzählt er. Dabei ist er nicht eben für einen sanften Umgang mit klassischen Stoffen bekannt.
Die Geschichte der braven Bürgertochter Sara, die ihren Vater verlässt, um mit dem Lebemann Mellefont nach Frankreich zu fliehen, war das erste bürgerliche Trauerspiel und durchtränkt von der Furcht und Mitleid-Theorie Lessings. Geläutert durch das Schicksal der Figuren, die sich in Leidenschaften verstricken, sollte der Zuschauer damals, im Jahre 1755, das Theater verlassen. In einem Gasthaus setzt bei Lessing Sara Mellefont unter Druck, sie zu heiraten. Da taucht die ehemalige Geliebte Mellefonts, Marwood, auf und präsentiert ihm die zehnjährige Tochter Arabella. Mit List will sie Mellefont zurückgewinnen, schleicht sich bei Sara ein und vergiftet sie.
Eigentlich hat Lessing in dem Stück die Ablösung des feudalen Systems durch bürgerliche Ideale wie Tugend, Moral, Familie und Selbstbestimmung beschrieben, zugleich aber Motive des Untergangs eingeflochten. Der Bürger definiert sich über die Tugend und sehnt sich doch nach dem Laster. Zeitgenössische „Verführer“ sind für Kriegenburg Marilyn Manson, Ozzy Osbourne oder Eminem.
Bei Lessing versucht Sara Sampson, in der Inszenierung gespielt von Maren Eggert, aus der Langeweile der Stabilität auszubrechen. Kriegenburg über Sara: „Ihr Dilemma ist, dass sie ihre Identität verliert. Sie verliert ihr Heim und ihre Ordnung. In dem Moment, wo sie Mellefont heiraten will, war sie längst im Bett mit ihm.“ Kriegenburg: „Wir leben in einer Zeit, wo der Individualitätsbegriff unglaublich inflationär wird. Die Menschen inszenieren sich heutzutage permanent selbst.“
Der lessingsche Konflikt zwischen feudaler und bürgerlicher Gesellschaft spielt heute allerdings keine Rolle mehr. Eher geht es um Tag- und Nachtmenschen. Sara kann der Verlockung der Nacht nicht widerstehen. Mellefont saugt als moderner Gefühlsvampir Menschen regelrecht aus. Marwood wiederum ist mit Mellefont in Lust und Obsession abgetaucht.
Die aus heutiger Sicht unerträgliche Rührseligkeit des lessingschen Schlusses – bevor Sara stirbt, vergibt sie Mellefont, Marwood flieht und Arabella bleibt bei Saras Vater – treibt Kriegenburg dem Stück aus. Das Melodram hat bei ihm keine Chance. Dafür aber eine neue düster-surreale Bildhaftigkeit, angesiedelt irgendwo zwischen Still-Leben und den frühen Musikvideos von Marilyn Manson. Alles sehr trostlos, aber für den Regisseur folgerichtig: „Wir feiern es als eine Sensation, dass Menschen einander helfen, so sehr sind wir heute eingerichtet in die Vereinzelung und die Selbstinszenierung.“ ANNETTE STIEKELE
Sonnabend, 7. September, 20 Uhr, Thalia
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