: Per Scheibe zum bunten Planeten
■ In Matthias Heuermanns Klangfarbe grübeln Musikmissionare über Monogamie und Sozialismus
Ein wunderliches Gerät steht auf dem Tisch. Es hat Knöpfe und Regler, einen Deckel und eine kleine Scheibe oben drauf. Hie und da ist ein Wort auf die silberne Oberfläche geschrieben; „Klangfarbe“zum Beispiel oder „Braun“. Was ist das? Ein Rasierer? Eine Mikrowelle? Ein Staubsauger? Nein. Es ist das Referenzinstrument der DJ-Kultur: ein Plattenspieler!
Matthias Heuermanns Film Klangfarbe, zu sehen im Rahmen der Parallelmontage Hamburg/Berlin - Fotografie und Film im Alabama, ist ein dokumentarischer Diskurs über das Selbstverständnis der experimentellen Popmusik und ihrer Akteure in englischer Originalfassung. Die Interviews mit 16 Bands wurden zusammengeschnitten und so ein virtueller Raum geschaffen, in dem sich MusikerInnen begegnen und sich gegenseitig Fragen stellen. „Habt ihr es jemals mit Außerirdischen gemacht?“Man...or Astroman fielen keine Sekunde aus ihrer Rolle der musikalischen Missionare aus der Zukunft. „Nur! Die Frage ist, mit welchen Außerirdischen wir es noch nicht gemacht haben!“.Angeblich ist die Musik der vier Chaoten aus Alabama derart komplex und diffizil, daß die Klänge erst durch ein spezielles Gerät den menschlichen Hörgewohnheiten angepaßt werden müssen.
Ohne zu wissen, von wem und an wen die jeweilige Frage ist, ergibt sich eine lose Reihung von Fragen und Antworten. Ein geschickter Schnitt, und schon wird ein nachdenklicher Blick als Reaktion auf eine Monate zuvor gestellte Frage interpretiert. Da wird gezeigt, wie ein Schlagzeug gestimmt wird oder was es mit dem Pickup-Switch an der E-Gitarre auf sich hat. Technische Details vermischen sich mit intimen Geständnissen und Insider-Tips vom bunten Planeten der Popmusik.
Wie man eine Band gründet und erfolgreich wird? „Geht in einen Raum, nehmt Schlafsäcke mit und macht sieben Tage lang Musik. Wenn es gut klingt, seid ihr Gewinner!“Schnitt. Ein Plattenspieler, zwei Kühe im Hintergrund. Schnitt. Ein Plattenspieler am Strand. Das ganze unterlegt mit fettem Surfpunk von Man...or Astroman. Die rotierende PVC-Scheibe hat einen Auftritt nach dem anderen, wird immer wieder als Fanal einer neuen Ära der Populärmusik zwischen den Fragen plaziert. Die winzigen, auf Vinyl gepreßten Vibrationen werden zu sichtbaren Klängen; der Weg der Musik durch die Röhren des Verstärkers bis zum Lautsprecher nachgezeichnet. Zwischen Schallplattenrille und menschlichem Gehör passieren Dinge, die Heavenly aus England einfach als „magic!“zusammenfassen.
Klangfarbe ist ein Sammelsurium aus assoziativen Schnitten, Informationsfetzen aus den Tiefen der Musikerpsyche und nicht zuletzt aus reinen Selbstdarstellungen. Wenn Front End Loader aus Sydney über das Verhältnis der Monogamie zu Freiheit, Demokratie und Sozialismus diskutieren und wenig später die Astroman die Länge ihrer Genitalien mit dem Durchmesser einer Single vergleichen, tun sich in dem Anfang 1995 fertiggestellten Film gar kulturelle Klüfte auf. „Was wird 1995 hip sein?“Linda: „Der clean-shaved-look!“. Irrtum.
Carsten Hansen
Alabama
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen