Pay-per-minute-Café in London: Nach Moskauer Zeitrechnung

An der Themse ist derzeit ein Café, in dem man nur für den Aufenthalt bezahlt, der letzte Schrei. Sein Besitzer hat die Idee aus Russland exportiert.

Unscheinbar im Hipster-Quartier: Café Ziferblat. Bild: Daniel Zylberstajn

LONDON taz | In der Old Street im trendigen Stadtteil Shoreditch hat gerade ein neues Etablissement aufgemacht. Auf einem unscheinbaren kleinen Schaufenster steht Café Ziferblat. An der Haustür, ein handgeschriebener Hinweis: „Bitte nicht anderswo klingeln“! Die Gäste müssen sich über eine schmale Treppe in den ersten Stock des Altbaus bemühen, denn dort befindet sich das Café in einem ehemaligen Büroraum.

Das Ziferblat, russisch für Zifferblatt, ist trotz der Neueröffnung kein Geheimtipp mehr, denn alle wichtigen britischen Medien haben bereits darüber berichtet. Dementsprechend ist es gut besucht. Auch Momos graue Männer könnten in dem Café Stammgäste werden, denn dort lässt sich nichts anderes als Zeit kaufen.

Getränke gibt es gratis und müssen in der kleinen Küche selber zubereitet werden, wer will darf auch abwaschen. An den Tischen wird geredet oder an Laptops gearbeitet. An der Wand hängt seltsamer Origamischmuck aus Tapetenresten. In Vitrinen und auf Regalen befinden sich vor allen Uhren und Wecker „zur Zeitmessung“.

Ein Aufenthalt im Ziferblat kostet drei Pence pro Minute, umgerechnet etwa 2,10 Euro pro Stunde. In einer Keksdose darf man auch Spenden hinterlassen. Aus einer alten Stereoanlage, gespeist durch ein mit ihr verbundenes Laptop, dröhnen Schlager und hin und wieder ein russisches Liedchen, denn schließlich stammt Ziferblat-Mitbesitzer und Gründer Ivan Mitin nicht nur aus Moskau, sondern hat dort und in der Ukraine schon neun andere Ziferblats aufgebaut.

Der 29-jährige etwas schmächtige Kaffeehausbesitzer mit Schnurrbart gibt sich bescheiden: „Ich bin den Maximalismus leid und außerdem überhaupt kein Geschäftsmann“, betont er. „Mein Ziel ist es nur, urbane entspannte Räume des Zusammenlebens zu schaffen – eine Wohnzimmeratmosphäre“! Ohne das Kapital seines Geschäftspartners aus der ukrainisch-russischen Bauindustrie hätte er seine Idee aber nie realisieren können. Nach London soll nun Berlin folgen.

„Toll ist, dass es nicht elitär ist“

Wie kommt es, dass Ivans Geschäftsmodell hier so gut anzukommen scheint? „Wir sind doch alle Kinder des Internetzeitalters und gewöhnt, Privates mit Fremden auszutauschen", meint Ivan. „Ziferblat ist eine Erweiterung, ein geruhsamer Ort, der den wirklichen Menschenkontakt will und fördert.“

Unter den Gästen finden sich auch schon Exildeutsche. Student Billy Holzberg, 24, aus Hamburg und sein englischer Kumpel haben vom Ziferblat erst gestern gelesen und sind gleich heute hergekommen. „Toll ist, dass es nicht elitär ist. Meist muss man in London einiges ausgeben, um überhaupt irgendwo sitzen zu können, es ist alles nur Business“, bemerkt Billy.

Michael, ein 28-jähriger Medienwissenschaftler, wohnt gleich um die Ecke und besucht regelmäßig Cafés zum Arbeiten. Sein Urteil: „Die Atmosphäre hier ist nett, und es ist günstiger als die meisten anderen Orte. Für einen guten Kaffee gehe ich aber lieber in ein unabhängiges Spezialcafé.“ Irgendjemand muss das auch Ivan schon gesteckt haben. Er verhandelt gerade mit lokalen Kaffeeröstereien. Bis jetzt stammt sein Angebot noch aus dem Supermarkt.

An einem Fenstertisch unterhalten sich Katharina Shalabonova und Maria Olinina, beide 24 und ursprünglich aus Russland. „Es erinnert mich hier alles an die Szenecafés in Moskau“, bemerkt Maria stolz, weil Russlands Metropole in London jetzt als „cool“ zu gelten scheint. Auch einem anderen Gast, Jerry Newton, 25, gefällt es hier: „Sieht alles aus, wie ein improvisierter Kaffeeschuppen ohne Profitambitionen!“ Er bezeichnet das Ziferblat als „eine aufregende Ergänzung zur kommerzialisierten Langweile Starbucks“.

Oder betreibt Ivan schlicht nur cleveres Marketing mit Low-Fi-Ambiente unter dem Label der Philantrophie? Trotz seines Konzepts der Förderung zwischenmenschlicher Beziehungen und obwohl sie an den Enden desselben Tisches saßen, haben sich der Deutsche Michael und die beiden Russinnen Maria und Katharina, nicht kennengelernt.

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