Patataz: Eine sogenannte Kolumne
Vielleicht bereiten die regierungsnahen Medien in der Türkei die Menschheit gerade langsam darauf vor, dass nichts real ist?
Als Kind präsentierten die Moderatoren in den Hauptnachrichten das Konzentrat sämtlicher Ernsthaftigkeiten der ganzen Welt. So hörte ich das erste Mal bei diesen ernsten Moderatoren dies: „der sogenannte Völkermord an den Armeniern“.
In meiner kindlichen Fantasie stellte ich mir erst vor, dass die Armenier gar nicht Armenier sind, sondern “sogenannte Armenier“, aber es dauerte nicht lange und ich wusste, das eigetnlich der Völkermord mit dem “sogenannt“ bezeichnet wurde. Just zu dieser Zeit brachte ein neunmalkluger Schwätzer ein, dass wenn man „Ex-Staatsminister“ sagt, es sich so anhöre, als ob man meine, dass der Staat „ex“ wäre. Deshalb solle man doch „Staats-Ex-Minister“ sagen, was dann auch die Sprecher des staatlichen Senders TRT veranlasste, in diese Wortkonstruktionen weitere Beiwörter zu stopfen. Ich weiß allerdings nicht, warum sie nicht auch „Der Armenier ihr sogenannter Völkermord“ sagten.
Also: Es gab keinen Völkermord an den Armeniern. Die Armenier wurden nicht in Massen umgebracht, sondern wurden nur massenhaft vertrieben. Auch wenn einige Armenier umgebracht wurden, kamen doch nicht sooo viele ums Leben. Und wenn so viele Armenier gestorben waren, wie sie immer behaupteten, dann sollte man sich doch bitteschön angucken, was die erst alles gemacht hatten, damals. Und wenn nicht alle etwas angestellt hatten, dann konnte man ja nie wissen, ob sie es nicht vorhatten?
Und überhaupt: immer wurden wir als Türken benachteiligt, bei Nationalspielen war der Schiri immer gegen uns, und beim Eurovision Song Contest gaben sich die befreundeten Staaten gegenseitig Punkte und uns keine. Nur kam keiner auf die Idee, den Eurovision Song Contest mit „sogenannt“ zu bezeichnen. Dieses „sogenannt“ tauchte lange Zeit nur beim Völkermord an den Armeniern auf.
1978 in Eskişehir geboren, Schriftsteller, Journalist und Drehbuchautor. Studierte Kommunikationswissenschaften und Geschichte, unter anderem an der Bilgi-Universität in Istanbul. Ist Mitbegründer der populären Karikaturzeitschrift „Uykusuz“. Bereits im Alter von 16 Jahren begann er in Istanbul für diverse Zeitschriften zu arbeiten. Neben dem Schreiben von Kolumnen, Artikeln und Drehbüchern, machte er auch Satz- und Layoutarbeiten.
Inflationärer Gebrauch des Wörtchens
Bis, ja bis einige kurdische Organisationen 1995 in Europa ein Parlament gründeten. Natürlich konnte es kein Kurdisches Parlament geben. Außerdem hatten wir gerade verdaut, dass die Kurden ein eigenes Volk sind – und keine Türken – , da konnten wir nicht zuschauen, dass es sie jetzt auch noch im eigenen Parlament tagten. Somit tauchte in den Hauptnachrichten die Bezeichnung „sogenanntes Kurdisches Parlament“ auf.
„Sogenannt“- das Wörtchen wurde in den letzten Jahren inflationär verwendet. Passt der Regierung und dem Regierenden etwas nicht, wird einfach vor die betreffende Bezeichnung ein „sogenannt“ geschoben. Und schwupps sind es dann „sogenannte Akademiker“, die die Regierung kritisieren. Künstler, die der Regierung missfallen, sind „sogenannte Künstler“. Menschenrechtsvereinigungen, die ihnen nicht in den Kram passen, sie ahnen es, heißen „sogenannte Menschenrechtsverteidiger“.
Mit diesem „sogenannt“ übertrieben sie es aber ein wenig, als die PKK ihren Gründungstag feierte und es hieß, dass sie ihren „sogenannten Gründungstag“ feierten: bedeutete das jetzt, dass die PKK als terroristische Organisation nicht existierte oder dass der Gründungstag schlicht ein anderer war? Keine Ahnung.
Alle bekommen ihr Fett weg
Dieses „sogenannt“ wurde mit der Zeit plumper und tat weh. Trauernde Menschen, die ihre Söhne oder Verwandten während des Militärdienstes verloren hatten und ihre Wut darüber bei den Begräbnissen äußerten, wurden als „sogenannte Verwandte der Märtyrer“ bezeichnet. Die Kinder der Politiker blieben mit allen verfügbaren Mitteln dem Pflichtdienst beim Militär fern. Aber trotzdem konnten die Politiker die trauernden Menschen als „sogenannte Angehörige von Märtyrern“ verunglimpfen und damit davonkommen.
Unsere internationalen Beziehungen bekamen ebenfalls ihr Fett weg. Bisherige Alliierte der Türkei wurden von einem Tag auf den anderen durch Erdoğan als „sogenannte Alliierte“ bezeichnet. Wie im Falle Ägyptens: die Macht, die sich per Putsch der Gewaltherrschaft der Muslimbrüder entledigte, um ihre eigene Gewaltherrschaft aufzubauen, hieß dann als „sogenannte Regierung Ägyptens“.
Wie konnte beispielsweise der Anführer der größten Oppositionspartei einen Marsch für Gerechtigkeit anführen, wenn „sogenannte Parlamentarier“ und „sogenannte Journalisten“ im Gefängnis saßen? Der staatliche Fernsehsender bezeichnete diesen Marsch als „sogenannten Marsch für Gerechtigkeit“. Und die „sogenannten Juristen“ verteidigten ohne Schamesröte im Gesicht die Inhaftierten.
Akademiker, Politiker, Imame
Die Academics for Peace, die die Petition „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein“ (gegen die Militäroffensive der türkischen Streitkräfte in den südöstlichen Gebieten Anfang 2015, Anm. d. Red.) wurden dann auch in den regierungsnahen Zeitungen als „sogenannte Akademiker“ bezeichnet. Für Recep Tayyip Erdoğan waren alle, die gegen ihn waren, entweder „sogenannte Akademiker“ oder „sogenannte Politiker“.
Und natürlich wurden ungetreue Religionsmänner zu „sogenannten Imamen“. Vor allem die von der Gülen-Bewegung, die seit Jahren schon ihre Getreuen in die Schlüsselpositionen innerhalb des Staatsapparates hievte und die sich vor allem während der AKP-Regierung bereicherten.
Doch am meisten bekamen die Kurden das Wörtchen „sogenannt“ vorgesetzt. Die HDP in Diyarbakır stellte einen Mufti für die Wahl zum Abgeordneten auf. Erdoğan musste natürlich betonen, dass die HDP ebenfalls Homosexuelle aufstellte, und verriet im gleichen Atemzug, dass der Mufti nur ein „sogenannter Mufti“ sein kann.
Lustigerweise sind es nicht nur die Erdoğan-Medien
Einerseits ein Mann der Religion, ein Mufti, und dann noch für eine Oppositionspartei kandidieren, wo gibt’s denn sowas? Auch die Judikative konnte die Kurden nur dann als wahre Kurden sehen, die der Regierungspartei ihre Stimme gaben. Der Rest waren „sogenannte Kurden“, wie kurdische, inhaftierte Politiker in den Anklageschriften genannt wurden.
Und Erdoğan wollte die Kantone, die die PYD in Syrien errichtete, und die nebenbei auch noch die stärkste Schlagkraft gegen die dortigen IS-Truppen boten, nicht anerkennen. Weil: „Wir erkennen keinen sogenannten Staat an“. Also einen Staat konnten sie eh nicht gründen, auch nicht einen sogenannten Staat, und dem hätten sie auch nicht zugestimmt.
Betrachtet man das Referendum der Kurden zur Unabhängigkeit in Nordirak unter diesen Aspekt, kann man leicht erraten, wie der „Meister/Reis“ und die Medien des „Reis“ dazu schrieben und sagten. Lustigerweise sind es nicht nur die Erdoğan-Medien. Auch opponierende Zeitungen, die aber den Kurden ferner sind, als es Erdoğan je war, vertreten die gleiche Meinung.
Nur ein Fehler in der Matrix?
Das Referendum ist ein „sogenanntes Referendum“, die Karte, die den Staat zeigt, der sich aus dem Referendum zur Unabhängigkeit konstituiert und seine Grenzen werden in einer „sogenannten Karte“ festgehalten, der ausschlaggebende Grund des Referendums wird als „sogenannter Unabhängigkeit“ und der Staat als „sogenannter Kurdenstaat“ betitelt. Letzendlich haben „sogenannte“ 92% der Bevölkerung der Unabhängigkeit zugestimmt. Ob die verbleibenden 8% „sogenannte“ Nein-Sager sind oder nicht, mag ich gar nicht beantworten.
Einerseits kann das ja auch alles wahr sein. Es gibt Technokraten, die glauben, dass alles, wir erleben, eine Simulation ist. Und es gibt Wissenschaftler, die glauben, dass wir in einer „sogenannten Universum“ leben, wie in dem Film „Matrix“. Vielleicht haben sie ja recht, und die ersten, die es bemerkt haben, sind der Reis und sein Mediengefolge.
Vielleicht bereiten sie die Menschheit nur langsam darauf vor, dass nichts real ist, und das die Welt und das Universum, in dem wir uns befinden, nur einer „sogenannten Wirklichkeit“ angehören. Natürlich kann ich solch eine tiefer gehende Wahrheit als „sogenannter Autor“ nur schwer begreifen.
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