Parteienforscher Walter über Hessenwahl: "SPD vor desaströsem Wahljahr"
Einerseits muss sich die SPD bei der Bundestagswahl von der FDP abgrenzen, andererseits brauchen sie sie für die Ampel. Bleibt die große Koalition als realistisches Ziel, sagt Parteienforscher Walter.
FRANZ WALTER, 52, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen und Mitbegründer der "Göttinger Schule" der Parteienforschung.
taz: Herr Walter, Roland Koch hat die Wahl zwar gewonnen, allerdings konnte die CDU weniger profitieren als erwartet. Woran liegts?
Franz Walter: In Krisenzeiten bekommt das Wirtschaftsbürgertum es mit der Angst zu tun. Und das beunruhigte Bürgertum sammelt sich diesmal bei der FDP. Das ist die eigentliche Niederlage von Koch. Die Christdemokraten in Hessen haben seit den späten Sechzigern das Sammelbecken des Bürgertums gegen die linke Gefahr gebildet. Koch konnte diese Tradition nicht mehr fortsetzen. Stattdessen profitiert die FDP.
Weil der Lagerwahlkampf nicht mehr funktioniert?
Nein, weil Koch alle Kernvorstellungen des letzten Wahlkampfs revidiert hat. Er will keine Studiengebühren mehr, er muss staatliche Bürgschaften für Unternehmen abgeben. Die Wirtschaftsliberalen sehen ihre Interessen bei der marktradikalen FDP besser aufgehoben. Man hat sich einen neuen Repräsentanten für seine Gesinnung gesucht.
Das heißt, dass der Höhenflug der FDP ein bundesweiter Trend werden könnte?
Durchaus. Denn die Union tritt ja gar nicht mehr als Deregulierer auf, sondern ist zuletzt mit dem Konjunkturprogramm sehr nah an die SPD gerückt. Niemand muss mehr Angst vor einer zu marktradikalen CDU haben. Damit deckt die CDU die gefährdete Mitte ab -und ihre enttäuschten Wirtschaftsliberalen gehen zur FDP. Damit könnte sich für diese beiden Parteien in der Tat eine ganz bequeme Mehrheit bilden.
Wie kann die SPD nun strategisch verhalten?
Die SPD muss sich theoretisch stark von der FDP abgrenzen, um ihre Stammwähler zu mobilisieren. Zugleich braucht sie die FDP als Koalitionspartner, weil sie die Linke ausschließt. Das ist ein strategisches Dilemma, aus dem sie nicht herauskommt. Dann bleibt nur die große Koalition als Ziel - und damit kann man nun wirklich niemanden mobilisieren. Das heißt, die SPD hat ein desaströses Wahljahr vor sich. Das erinnert an 1987, als die Grünen aufkamen. Mit denen wollte die SPD zunächst auch nichts zu tun haben. Wenn eine Partei aber keine Machtperspektive entwickeln kann, wird sie für die Wähler unattraktiv. Im gleichen Dilemma steckt die SPD heute mit der Linkspartei, und da gibt es keinen Ausweg.
Andrea Ypsilanti ist zurückgetreten. Ist das folgerichtig?
Ja, wenn die Partei kaum besser dasteht als die FDP, dann muss die Vorsitzende dafür die Verantwortung übernehmen. Die große Chance bestand darin, dass Ypsilanti mit der Linken hätte zeigen können, wie aus einem Mephisto ein Darling wird. Sie hätte der Linken das Dämonische genommen und das hätte der SPD insgesamt etwas aus dem Dilemma mit der Linkspartei geholfen. Aber es hat nicht geklappt, und dass sie das nicht garantieren konnte, ist einfach ein Führungsfehler gewesen.
Warum konnte die Linke so wenig von der Schwäche der SPD profitieren?
Die Linken-Wähler wollen eine Partei, die Sicherheit und Stabilität bietet. Das hat die Linkspartei nicht geschafft. Man kann auch nicht immer nur Gregor Gysi für den Wahlkampf importieren. Da fehlt auch im Landtag eine Führungsfigur, die zuspitzen und angreifen kann.
INTERVIEW: HEIDE OESTREICH
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