Parlamentswahl in Spanien: Lernen, die Tortilla zu wenden
"Wählt sie nicht!" lautete im Mai bei den Regionalwahlen in Spanien der Slogan der Empörten. Jetzt wollen viele den kleinen Parteien ihre Stimme geben.
MADRID taz | Esperanza Encabo wohnt im Hotel. Es ist nicht irgendein Hotel, und der Aufenthalt ist nicht ganz freiwillig. Das Haus liegt mitten im Zentrum Madrids, nur wenige Meter von der Puerta del Sol entfernt, wo bei den spanischen Kommunal- und Regionalwahlen im Mai Hunderte ihr Protestcamp errichteten.
"Wir haben das leer stehende Gebäude nach der weltweiten Mobilisierung für 'Occupy' am 15. Oktober besetzt", erklärt Encabo. Sie wurde aus ihrer Wohnung in einem kleinen Dorf 100 Kilometer westlich von Madrid geklagt. Das ist kein Einzelfall. In den letzten fünf Jahren wurden in Spanien 500.000 Wohnungen zwangsgeräumt. Ganze Familien landeten auf der Straße. Das "Befreite Hotel Madrid" bietet ihnen vorübergehend eine Bleibe.
Das Gebäude mit seinen fünf Stockwerken, Küchen, Restaurant und Versammlungsräumen stand seit Jahren leer. Es gehört einer Immobilienagentur, die sich mit Luxuswohnungen und teuren Gebäuden verspekulierte und im Januar 2010 für zahlungsunfähig erklärt hat. Für die Besetzer ist klar, dass solche Unternehmen "für die Politik mitverantwortlich sind, die das Land in die schwierige wirtschaftliche Lage gebracht hat".
Die Sozialisten: Der bisher regierende Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero tritt nicht wieder an. Spitzenkandidat der PSOE ist Alfredo Pérez Rubalcaba, ehemaliger Vizeregierungschef und Innenminister. Chancen, die Wahlen zu gewinnen, hat er keine. Die PSOE hat sich durch die Sozialkürzungen äußerst unbeliebt gemacht.
Die Konservativen: Herausforderer ist Mariano Rajoy von der Partido Popular (PP), der im dritten Anlauf versucht, Regierungschef zu werden. Diesmal dürfte er es wohl mit absoluter Mehrheit schaffen.
Die Kleinen: Die Vereinigte Linke (IU), die Zentrumspartei UPyD und die grüne Partei Equo hoffen auf Stimmen aus der Erbmasse der Sozialisten. Besonders schwer hatte es Equo. Dank eines im Januar verschärften Wahlgesetzes müssen Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind, in allen Provinzen 0,1 Prozent des Wahlzensus als Bürgschaft einholen. Equo sammelte mehr als das Doppelte der nötigen Unterschriften. (rw)
Spanien boomte über ein Jahrzehnt dank der Immobilienspekulation. Dann platzte die Blase. Fünf Millionen Menschen - über 20 Prozent - sind ohne Arbeit, die Jugendarbeitslosigkeit ist doppelt so hoch. Das Hotel ist zum neuen Symbol der Bewegung der Empörten geworden.
Mit 75 eigentlich zu alt für Proteste
Esperanza Encabo sieht sich als Aktivistin der "Bewegung der Empörten" oder des "15 M", wie sie sich nennen. Der Name bezieht sich auf den 15. Mai, als mit einer Demonstration gegen Korruption, Jugendarbeitslosigkeit und das ungerechte spanische Wahlsystem alles begann.
Dabei will Encabo gar nicht so recht in dieses Schema passen. Mit 75 Jahren ist sie eigentlich viel zu alt für Proteste, die der Unzufriedenheit der spanischen Jugend zugeschrieben werden. "Ohne die jungen Leute vom 15 M stände ich auf der Straße", erklärt die Frau, die sich bis zur Rente mit Gelegenheitsjobs in Spanien, Deutschland, Frankreich und Belgien durchgeschlagen hat.
Gleich neben dem Hotel auf der Puerta del Sol findet Wahlkampf statt. Ob die konservative Partido Popular (PP), die PSOE des noch regierenden Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero oder die kleineren Parteien, alle legen einen Zwischenstopp im Herzen der spanischen Hauptstadt ein. Sie versprechen und versprechen. Encabo lässt das kalt. "Es ist Zeit, die Tortilla zu wenden", nutzt die energische Alte ein spanisches Sprichwort.
Bisher habe sie immer die Sozialisten gewählt. Doch nach den ganzen Sozialkürzungen wandte sich Encabo von der Partei des amtierenden Premiers Zapatero und deren Spitzenkandidat Alfredo Pérez Rubalcaba ab. "Ich werde dieses Mal einer kleinen Partei meine Stimme geben", erklärt Encabo. Sie sympathisiert mit der neu entstandenen grünen Partei Equo.
Plötzlich wird die Wahl zum Thema
Im Mai bei den Kommunal- und Regionalwahlen lautete der Slogan der Empörten: "Wählt sie nicht!" Oder: "Sie vertreten uns nicht!" Folglich stieg die Stimmenthaltung, es gab viele ungültige Stimmen, und die PP gewann die Regional- und Kommunalwahlen haushoch.
Diese Diskussion wird in Encabos Hotel und auch auf den Versammlungen des 15 M geführt. "Wer nicht wählt, legitimiert damit das Zweiparteiensystem", erklärt Fernando Rodríguez, warum die Wahl plötzlich zum Thema wird. Der 37-jährige Berufsschullehrer war von Anfang an im Protestcamp an der Puerta del Sol dabei.
Im Internet macht ein Video von Anonymous die Runde und auch die Aktivisten von "Echte Demokratie jetzt!" - der Plattform, die zum 15. Mai mobilisiert hat - meldet sich bei Twitter und Facebook mit Aufrufen zu Wort, eine der kleinen Parteien zu wählen.
Die Umfragen zeigen: Die postkommunistische Vereinigte Linke, die liberale Partei UpyD und die neu entstandene grüne Equo dürfen sich Hoffnungen auf Stimmen aus den Reihen derer machen, die dem bisherigen System den Rücken kehren. Rodríguez, der nun bei den Lehrerprotesten gegen Stellenkürzungen an den öffentlichen Schulen in Madrid aktiv ist, schwankt zwischen Equo und der linksradikalen Formation "Anticapitalistas". "Vermutlich werde ich grün wählen, denn sie haben reelle Chancen", sagt er.
"Die Menschen haben sich dank unserer Proteste wesentlich mehr mit den aktuellen Problemen und möglichen Antworten darauf beschäftigt", ist sich Fabio Gándara sicher. Die basisdemokratische Erfahrung der Empörten habe andere soziale Protestbewegungen gegen den Sozialabbau und auch neu entstandene, kleine Parteien beeinflusst.
Der 26-jährige arbeitslose Jurist ist einer der Gründer von "Echte Demokratie jetzt!". Auch er will eine der kleineren Parteien wählen. Welche, das gibt er nicht preis. "Vor allem die kleinen Parteien haben sich unserer Forderungen nach mehr direkter Demokratie angenommen."
Trotz des bevorstehenden Sieges der Konservativen ist Gándara optimistisch. "Wir werden am Wahlsonntag eine Überraschung erleben", sagt er. "Das Parlament wird so viele Parteien aufnehmen wie nie zuvor." Für ihn ist das der "Anfang vom Ende des Zweiparteiensystems".
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