Parallelwelt der Reichsbürger: „Chefchemiker“ auf der Flucht
Ein Neuköllner „Reichsbürger“ hortete Pyrotechnik und bedrohte Ämter. Jetzt sollte ihm der Prozess gemacht werden. Doch Daniel S. floh.
Die Anklagebank bleibt leer. „Der Angeklagte ist nicht auffindbar“, stellt der Richter im Saal 820 des Landgerichts nüchtern fest. Daniel S. sei am Dienstagmorgen aus dem Maßregelvollzug geflohen. Mit einer Schlüsselkopie sei er in den Keller gelangt, habe dort ein Gitter entfernt und Reißaus genommen. „Deshalb können wir heute nicht verhandeln.“
Es war fast zu erwarten. Denn das Gericht, vor dem sich der 39-jährigen Neuköllner wegen versuchter Nötigung und „unerlaubtem Betreiben eines Lagers für explosionsgefährliche Stoffe“ verantworten sollte – er hatte es schon im Vorfeld abgelehnt. S. sieht sich nicht als Staatsangehöriger der Bundesrepublik, sondern als „freier Reichsbürger“. Und ist damit Teil einer kleinen, bundesweit aktiven Verschwörertruppe.
Am stacheldrahtbewehrten Tor von S.’ Grundstück hängt bis heute das Schild: „Republik Freies Deutschland – Hoheitsgebiet“. Es liegt im Gewerbegebiet an der Neuköllnischen Allee, darauf stehen Container, Schrott und blaue Fässer. S. arbeitete früher als Pyrotechniker, in der „Republik“ ist er „Chefchemiker“. Dreimal rückte die Polizei zu Razzien an. Im Juli 2012 beschlagnahmte sie 10 Kartons mit 500 Sprengkapseln und 127 Leuchtkörpern. Insgesamt über 280 Kilo "Nettoexplosionsstoffmenge", wie es in der Anklage heißt – 230 Kilo mehr, als S. als Pyrotechniker aufbewahren durfte.
Schon zuvor hatte der Angeklagte Behörden bedroht. Würden Verfahren gegen ihn fortgesetzt, schrieb er dem Bezirksamt Neukölln, werde er „im Falle eines Angriffs unglaubliche Härte gegen alle Beteiligten“ einsetzen. Einer Angestellten im Amtsgericht Tiergarten drohte er, man werde „sie auslöschen“. Das Amtsgericht attestierte ihm ein „psychiatrisches Störungsbild“ und wies ihn im April in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik ein.
Vor Gericht erscheinen am Dienstag nur drei von S.’ Gleichgesinnten. „Stopp“, ruft einer laut in den Saal: Helmut Makowski, ein rundlicher Mann mit Krawatte. Er sei der rechtmäßige Verteidiger und habe einen Antrag. Der Pflichtverteidiger runzelt die Stirn. Makowski legt das Papier vor den Richter. „Aha“, sagt der.
Es gebe Leute, sagt der Pflichtverteidiger später, die lebten in einem Wahnsystem. „Die folgen einer anderen Rechtsrealität.“ Makowski hält den Anwalt für „nicht befugt“. S. habe nie etwas unterschrieben. Zwar ist Makowski nur Rentner. Aber, sagt er, „in meinem Staat bin ich Anwalt“.
Auch er habe sein Grundstück zum Mikrostaat ausgerufen, erklärt der Bremer. Die „Freie Republik Deutschland“ sei ein unabhängiger Verbund dieser Staaten mit 400 Angehörigen. Sie sind nicht allein: Bundesweit gibt es gleich mehrere „Reichsbewegungen“. Sie alle behaupten ein Fortbestehen des Deutschen Reichs. Die Bundesrepublik habe sich nach 1945 völkerrechtlich nie richtig konstituiert. Deren Gesetze werden demnach ignoriert, stattdessen eigene „Verfassungen“ entworfen und Phantasieausweise ausgestellt. Makowski behauptet, auch keine Steuern zu zahlen. Die Razzien gegen S. nennt er „Überfälle“, die Beschlagnahmungen "Plündereien".
Politisch pendeln die „Reichsbürger“ zwischen Verschwörungstheorie und Rechtsextremismus. In Berlin verschickte letztes Jahr eine „Reichsbewegung“ Briefe an muslimische und jüdische Einrichtungen und forderte eine Ausreise bis zum 1. August – wegen „Völkervernichtung durch Rassenvermischung“. Der Verfassungsschutz nannte das einen "kruden Ideologiemix aus Holocaustleugnung, Verschwörungstheorien und Esoterik". Das Spektrum sei in Berlin aber "weitgehend marginalisiert". Dennoch könnten sich Einzeltäter zu Straftaten animiert fühlen.
Makowski bestreitet eine Nähe zum Rechtsextremismus. „Wir wollen nur einen echten Rechtsstaat.“ Sollte sich Daniel S. bei ihm melden, werde er ihn zur Polizei bringen. „Ich will dieses Verfahren ordentlich führen.“ Das soll am kommenden Dienstag fortgesetzt werden - sofern S. bis dahin wieder auftaucht.
Laut der Senatsverwaltung für Gesundheit wurde "umgehend" nach ihm gefahndet. Gefahr gehe von S. nicht aus. "Er gilt als jemand, der Konflikte und Gewalt eher vermeidet." Nur wenn er sich durch "behördliche Maßnahmen in die Enge getrieben fühle", könnte er sich "möglicherweise wehren".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ende des Assad-Regimes
Momente, die niemand den Syrern nehmen kann
Ende des Assad-Regimes in Syrien
Syrien ist frei
NGO über den Machtwechsel in Syrien
„Wir wissen nicht, was nach dem Diktator kommt“
Unterstützerin von Gisèle Pelicot
„Für mich sind diese Männer keine Menschen mehr“
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Musik verschenken
Entsorgt bloß die CD-Player nicht!