piwik no script img

Papa und die Dampflok

■ Besteht auf der Schönheit der Welt: Nicolas Philiberts "Im Land der Stille"

Schon bei Carolin Links „Jenseits der Stille“ starrte das Kinopublikum fasziniert auf die fliegenden Hände der Gehörlosen. Im Kielwasser dieses Kassenerfolges hat jetzt ein französischer Dokumentarfilm den Weg in die Kinos gefunden, der abseits jeder Melodramatik ein sehr genaues Bild einer Gegenwelt zeigt, die ohne Geräusche auskommt. „Im Land der Stille“ von Nicolas Philibert ist ein Film, der auf der Schönheit dieser Welt besteht. Er transportiert diese Botschaft ganz ohne moralisierende Stimme aus dem Off, ohne Druck auf Tränendrüsen. Statt dessen beobachtet er, genau und liebevoll, und läßt seine Akteure reden. Mit den Händen. Keine Zwischenschnitte, keine Nahaufnahmen: sonst kann man die Gebärden nicht verstehen. Und man merkt wieder, wie schön es ist, in Ruhe dabei zuzugucken, wie jemand von sich erzählt.

Der beste Erzähler ist der Gebärdensprachlehrer Jean-Claude Poulain, einer der Hauptakteure des Films. Er schafft es nicht nur, seinen etwas schüchtern gestikulierenden erwachsenen Schülern auf höchst amüsante Weise den gestischen Unterschied zwischen einem Hund und einem Elefanten nahezubringen. Er vermittelt dabei ganz nebenbei die Prinzipien dieser Sprache, die zwar eine Bildsprache ist, aber genauso wie andere Sprachen verkürzt, abstrahiert und durchaus dazu geeignet ist, komplexe Zusammenhänge auszudrücken. Angesichts dieses virtuosen Zusammenspieles von Mimik und Gestik, des Engagements und des Gefühlsreichtums, das Jean-Claude Poulain vermittelt, erscheint einem die gesprochene Sprache plötzlich arm.

Wie qualvoll dagegen die Bemühungen der Schulkinder, die Vokale, Konsonanten bilden müssen, die sie selbst nicht hören können und die ihnen nichts bedeuten. Natürlich, es gibt Computerprogramme, bei denen das richtig ausgesprochene Pa-pa eine Dampflok über den Bildschirm bewegt, es gibt die Hand am Mund, die den Luftzug und die Vibrationen spürt. Aber vor allem gibt es große, fragende Augen und den kleinen Florent, der anfängt zu weinen, weil er schon wieder W statt S gesagt hat. Erst nach der Schule fliegen die Hände wieder, und die Kinder schwatzen stumm. Der schüchterne Florent aber, der mit seiner Mutter auf einer Wiese spielt, kreischt befreit und attackiert übermütig das Mikro des Kamerateams.

Gehörlos sein hat mit Traurigkeit nichts zu tun. Nur die Kollision mit einer Welt, die über gesprochene Sprache funktioniert, die tut weh. Das wird immer klarer, je mehr die Kinder, die Jugendlichen, die alten Leute, die Nicolas Philibert befragt hat, erzählen. Wer einziges gehörloses Kind in einer Familie von Hörenden ist, die nicht bereit ist, die Gebärdensprache zu lernen, ist sehr, sehr einsam. Wer versucht, eine Wohnung zu mieten, und Zettel und Stift vergessen hat, wird es nicht schaffen, sich mit dem Vermieter über den Preis zu einigen. Und ein gehörloses Paar, das ohne Gebärdendolmetscher heiratet, steht hilflos und traurig vor dem Priester und weiß nicht, wann es „ja“ sagen soll.

Doch der junge Rocker in der Kneipe erzählt mit beträchtlichem Stolz von seiner Familie, in der alle seit fünf Generationen gehörlos sind. Letztens wurde eine Nichte geboren, die hören kann: „Das arme Kind“, gestikuliert er lachend. Und während man Jahre braucht, um eine gesprochene Fremdsprache fließend zu lernen, verständigen sich Gehörlose schon nach zwei Tagen mühelos in der jeweiligen Gehörlosensprache des fremden Landes.

Wenn man allerdings Hörende und Gehörlose aus zwei Ländern zusammenbringt, hat man schon vier Sprachen, und dann wird's kompliziert. Das konnte man bei der Präsentation des Filmes im Kino in den Hackeschen Höfen studieren. Dazu war nicht nur Regisseur Nicolas Philibert, sondern auch der Gebärdensprachlehrer Poulain erschienen, und so wurde emsig zwischen Französisch, Deutsch, deutscher Gebärdensprache, internationaler Gebärdensprache und zurück übersetzt. Verstanden hat man sich trotzdem. Und während der Filmemacher Philibert noch einmal betonte, daß er den moralisierenden Zeigefinder in der Tasche lassen wolle, zog Gebärdensprachlehrer Poulain sein Fazit aus dem Film: nicht artikulieren um jeden Preis, sondern die Gebärdensprache fördern, an der Schrift und am Wortschatz arbeiten und ansonsten keine Angst haben, wenn ein Kind gehörlos geboren wird. Elke Buhr

„Im Land der Stille“ (Le Pays Des Sourds) von Nicolas Philibert, Kamera: F. Labourasse, Frankreich 1992

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen