Panter-Preis-Nominierte 2012: Eine Frau für den Frieden
Heike Kammer engagiert sich in Krisengebieten für den Schutz der Menschenrechte. Das große Ziel: eine gewaltfreie Konfliktbearbeitung.
Mit 16 Jahren von zu Hause raus, mit 19 raus aus Deutschland. Heike Kammer stand noch nie still. Ständig hat sie das Gefühl, sie müsse etwas Sinnvolles mit ihrem Leben anfangen. Nach der Ausbildung in der Landwirtschaft ist sie allein nach Südamerika gegangen. Ihr Gepäck: kaum vorhanden. Sie wollte raus, denn sie besaß kein Land, konnte in der Landwirtschaft nicht weiterarbeiten. „Einen Bauern zu heiraten, das war nicht mein Ziel“, sagt sie.
In Venezuela konnte sie erst mal bei Verwanden unterkommen, das war ihr geschützter Raum. Mit 19 in einem fremden Land. Die Sprache sprach sie nicht. Sie blieb, reiste für ein halbes Jahr herum und engagierte sich ehrenamtlich. „Ich bin kein Mensch, der Urlaub macht“, sagt Kammer. Also begann sie schnell, in Venezuela zu arbeiten. Erst in der Landwirtschaft, das war ihr vertraut, später verkaufte sie ihre Handarbeit auf der Straße. Sie wollte nie wirklich Geld verdienen. „Ich war sehr nah an der Bevölkerung“, so Kammer.
Schon immer hatte Kammer diesen Drang: Sie engagiert sich für Frieden. Das klingt erst mal banal und auch ein wenig effekthascherisch, doch Kammer braucht keine große Bühne. Wenn sie redet, ist sie ruhig. Ihre Stimme klingt nie aufgeregt.
1986 geht sie nach Guatemala. Dort lernt sie Frauen kennen, die nach verschwundenen Angehörigen suchen. Allein in Guatemala wurden in Zeiten der Militärdiktaturen über 40.000 Menschen heimlich verhaftet, eingesperrt und ermordet, ohne die Angehörigen zu informieren.
„Das Verschwindenlassen ist eine brutale Form der Repression“, sagt Kammer, „und wenn die Angehörigen nach Aufklärung verlangten, war auch ihr Leben bedroht.“ Diese Angehörigen wurden schon damals von internationalen Friedensorganisationen wie Peace Brigade International begleitet. Als Kammer das erfuhr, dachte sie sich: „Das kann ich doch auch machen.“
Gewaltfreie Konfliktbearbeitung
Seit 1982 engagieren sich die Helfer der Friedens- und Menschenrechtsorganisation Peace Brigade International in Krisengebieten für den Schutz der Menschenrechte. Das große Ziel: eine gewaltfreie Konfliktbearbeitung. Es geht vor allem darum, örtlichen Menschenrechtsverteidigern Freiräume zu schaffen. Kammer ist inzwischen eine von denen, die am längsten bei Peace Brigade International dabei sind. Und wenn sie das erzählt, klingt sie ein wenig stolz.
Sie begleitete bei ihrem ersten Einsatz ein kleines Mädchen. Die Tochter einer Frau, die Anführerin einer Gruppe war, die Aufklärung verlangte und nach Angehörigen fahndete. „Das ist das Brutalste, wenn man einer Mutter sagt, dass man ihre Tochter holt. Wir haben also dieses Mädchen zur Schule gebracht, nachmittags abgeholt – fast eine Rundumbegleitung. Das ging jahrelang“, sagt Kammer. Wenn sie darüber spricht, hört es sich wie die normalste Arbeit der Welt an. Doch Kammer riskiert mit ihren Einsätzen ihr Leben. An ihre Grenzen stößt sie nie. Dafür ist auch der Druck zu groß. Sie will ihr Leben sinnvoll nutzen.
Die Nominierten: Der Preis geht an Menschen, die sich mit großem Einsatz für andere starkmachen und mutig Missstände aufdecken. Unsere Jury hat sechs KandidatInnen vorausgewählt.
Die Verleihung: Jedes Jahr werden zwei Preise verliehen. Den ersten vergibt eine taz-Jury, den Preis der Leserinnen und Leser vergeben Sie. Beide Preise werden am 15. September im Deutschen Theater in Berlin verliehen.
Die Porträts: Jede Woche stellen wir in der sonntaz einen Kandidaten vor. Bisher waren dies: Antje Krajci, die ein verletztes afghanisches Mädchen bei sich aufnahm, Johannes Wolf, der Fahrräder für Afrika sammelt, Sandra Klatt-Olbrich, die eine Selbsthilfegruppe für Mütter mit Behinderungen gründete, und Emiliano Chaimite, der sich in Dresden für die afrikanisch-europäische Verständigung einsetzt. Ab 4. August können Sie Ihre Stimme für den LeserInnenpreis abgeben: per Mail, per Post oder im Internet auf www.taz.de/panter
Kammer finanzierte sich durch ein kleines Taschengeld. „Davon kann man gut leben, aber keine Familie ernähren“, sagt sie. 1992 ist sie wieder in Guatemala. Damals wollten die Menschen aus den Urwaldgebieten in die Stadt gehen, sich zeigen und darauf aufmerksam machen, dass sie von der Regierung bombardiert werden. „Das konnte die Regierung aber nicht zugegeben und deshalb sagten die, sie würde Rebellen bekämpfen.“
Drei Monate lang war sie vor Ort, ging mit den Menschen aus den Urwaldgebieten zur Regierung. Ein wichtiger Grundsatz von Peace Brigade International ist: Keine Einmischung. Kammer begleitet also nur. „Bis vor die Tür. Wir sind nicht reingegangen“, sagt sie.
Keine Angst
Letztes Jahr feierte die Organisation ihr 30-jähriges Bestehen. Angst kennt Kammer nicht. „Es hat Drohungen gegeben und alles, aber wir sind noch am Leben mit einer bewusst gewaltfreien Arbeit.“ Wenn ihr, einer Deutschen, etwas passiert wäre, hätte sich in Deutschland schon etwas geregt – davon ist sie überzeugt.
Aufhören kann sie nicht. Da ist dieser Druck, den sie verspürt. Sie will Aufmerksamkeit schaffen, nicht für sich, sondern für ihre Arbeit. Ihr letzter Einsatz war in Mexiko, dort war sie sechs Jahre lang, bis 2005. In Chipaz sammelte Kammer erste Erfahrungen mit dem Puppenspiel. Sie benutzte das Puppentheater, um Erwachsene aus verfeindeten Dörfern zur Reflexion über ihren Konflikt zu bewegen.
2005 brachte Heike Kammer schließlich die Idee für ein „Puppentheater des Friedens“ mit nach Deutschland. Sie spielt ihre Stücke vor allem für Kinder, die so ihr Konfliktverhalten reflektieren sollen. Damit tourt sie durch die ganze Republik.
Einen festen Wohnsitz hat sie immer noch nicht, sie lebt weitgehend losgelöst von Materiellem. Ohne Waschmaschine, ohne Kühlschrank und ohne Bücherregal. Wie sie abschaltet? Sie geht raus, nimmt sich das Rad und fährt los. Ein Buch hat sie nicht dabei, dafür ein wenig zu essen. Das Fahrrad ist ihr Lieblingsfortbewegungsmittel. Stillstand kennt Kammer nicht, sie spürt ständig den Druck.
Heike Kammer will nicht perfekt sein, sie buhlt auch nicht um Anerkennung. Perfektion scheint sie gar zu langweilen – auch bei anderen. „Perfekt können wir nie alle sein, und dann ist man frustriert, wenn man so sein will. Ein bisschen, wie wenn Christen sein wollen wie Jesus, aber ans Kreuz traut sich doch keiner“, sagt sie.
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