■ Pampuchs Tagebuch: Geringfügige Symptome von Depression
Ich habe meinen alten Dampfcomputer von 1989 mit einem schicken Notebook mit Internetanschluß vertauscht. Ich habe neue, wundersame Programme geladen, tagelang meine individuellen Hintergrundfarben und einen meiner Persönlichkeit entsprechenden Bildschirmschoner ausgesucht. Ich mußte neu formatieren, konvertieren und mich an etwa 50 neue Befehle gewöhnen, von denen ich die meisten regelmäßig vergesse. Das Hilfeprogramm – das mit dieser überheblich lächelnden Büroklammer – verwirrt mich. Immer kommt es mir mit neuen unbekannten Möglichkeiten. Nur das, was ich suche, taucht im Index nicht auf.
Mein Leben hat sich verändert. Alle wichtigen Zeitungen der Welt kann ich lesen, doch öfter noch beschäftigen mich die verschiedenen ein- und ausschließenden „und“ und „oder“ der Suchmaschinen. Ich streife durch „amazon.com“ und habe mir das „dictionary“ der „tu-dresden“ geladen. Ich habe Chatrooms besucht, und meine amerikanische Nichte hat sich, als ich – aus rein beruflich Gründen, natürlich – verschiedene Pornowebseiten prüfte, per „aol-buddy-online“ mitten in meine ernsthafte, professionelle Arbeit gezwängelt.
Ich verschicke E-Mails in alle Welt, ich erlebe „schwere Ausnahmefehler“ und „fatal errors“ am laufenden Band, ich markiere laufend neue Webseiten in meiner Favoritenliste und habe mir den Starr-Report samt Clinton- Rebuttal von CNN runtergeholt. Die kleine schwarze Kiste mit der sanften AOL-Stimme ist mir zu einer Gefährtin geworden. Zugegeben, sie ist eine launische Zicke, doch ihr herzliches „Willkommen!“ erfrischt mich, ihr fröhliches „Sie haben Post!“ ist mir Balsam, ihr hoffnungsfrohes „Bis bald!“ kettet mich an sie.
What is the internet doing to us? Antwort hat mir – logisch – das Internet gegeben. Finde ich doch in der Washingtonpost.com einen Artikel mit just diesem Titel. Eine Studie der Carnegie Mellon University habe ergeben, daß Internet-User „einsam und sozial zurückgezogen“ werden. Es seien zwar – so Robert Kraut, der Leiter der Untersuchung – nur „relativ geringfügige Symptome von Depression“ bei den 93 Langzeitprobanden (93 Pittsburgher Familien) verzeichnet worden – „eher so was wie Schiß als Selbstmordgefährdung“ –, doch im flinken Amerika denkt man schon fleißig über Abhilfen nach. Der Koautor der Studie, William Scherlis, regt an, den Computer einfach aus dem Kellerbüro in den „family room“ umzutopfen.
Doch bevor nun alle ihr Notebook ins Wohnzimmer tragen, eine Entwarnung. So ganz sicher ist sich die Depressions-Community nämlich doch nicht. Mag's nun daran liegen, daß der amerikanische „family room“ am Ende auch nicht der Hort ungetrübter Lebenslust ist, oder daran, daß viele der Internet-Anbieter ihrerseits so was wie Schiß kriegen, jedenfalls sind die Gegengutachten schon unterwegs. Das „Project 2000“ der Vanderbuilt University etwa, dessen Interesse vor allem dem „electronic commerce“ gilt, will herausgekriegt haben, daß Web-Benutzer den Online-Zustand als „positiv und bereichernd“ erleben. Er führe zu einem „befriedigenden mentalen Status, known as ,flow‘“. „Schwall“, „Strom“, „Fluß“, „Überfluß“, „Flut“, „Zufluß“, ja sogar „Erguß“ bietet mir mein Dictionary als Übersetzung an.
O Überfluß, o Schwall, o Strom! Alles fließt. Auch in der Internetauswirkungsforschung. Sozial zurückgezogene, bereichernde Flut? Depressiver Zufluß? Einsam positiver Erguß? Fragen, Zweifel, Rätsel in meiner vernetzten Hütte. Doch keine Angst. Einsam sind die Tapferen. Der Redakteur dieser Seite hat mir übrigens gesagt, daß diese Studien sowieso kalter Kaffee seien. Und dann haben wir nett geplaudert. Am Telefon. Thomas Pampuch
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