Palästinenserinnen reisen nach Israel: Einmal das Meer sehen
Eine Gruppe Israelinnen organisiert für Palästinenserinnen Tagesausflüge. Ihr Ziel: Annäherung. Doch der Akt zivilen Ungehorsams hat Folgen.
TEL AVIV taz | In der Nähe von Bethlehem rollt ein Auto mit israelischem Kennzeichen auf den Parkplatz einer Tankstelle. Dann kommt noch ein Wagen und noch einer, fünf oder sechs sind es insgesamt. Frauen in sommerlicher Kleidung steigen aus. Sie sind aus Tel Aviv, Jerusalem und Haifa angereist, um Palästinenserinnen für einen Ausflug ans Meer abzuholen.
Kaum hundert Meter von der Tankstelle entfernt stehen sich israelisches Militär und Demonstranten gegenüber. Die Gruppe der mit Helmen, kugelsicheren Westen und Schutzschilden ausgerüsteten Soldaten ist dreimal so groß wie die Kundgebung der Palästinenser. An der engen Einfahrt zum Dorf finden wöchentlich Demonstrationen gegen die Besatzung und gegen die jüdischen Siedlungen in der Umgebung statt. Als sich die Pressefotografen die Gasmasken aufsetzen, ist die Autokolonne schon unterwegs nach Tel Aviv.
"Nur einmal das Meer sehen" wollte die halbwüchsige Tochter von Ilana Hammermans palästinensischer Arabischlehrerin. Das war vor gut einem Jahr. Nach Tel Aviv oder Jaffa ist es nur eine Stunde mit dem Auto, doch um nach Israel reisen zu können, brauchen Palästinenser eine Genehmigung. Das Meer sehen zu wollen reicht dafür nicht als Grund.
Israel hat jüngst die Zahl der Einreisegenehmigungen für Ausflüge verdoppelt. Vor allem Schulklassen dürfen einreisen.
2010 wurden 28.000 Einreisegenehmigungen erteilt, zusätzlich zu den Arbeitsgenehmigungen und den Ausnahmen für medizinische Behandlungen.
2011 sind bis Anfang August bereits 31.000 Palästinenser nur zu Besuch nach Israel gekommen.
Die Klassen fahren gewöhnlich in gemischte Städte, zur Safari nach Tel Aviv und zum Strand. Ziel der neuen Regelung ist, dass die jungen Palästinenser andere Israeli kennenlernen - nicht nur den Soldaten oder Siedler. (sk)
Hammerman, eine bekannte Herausgeberin, Autorin und Übersetzerin, reichte es jedoch. "Das machen wir", sagte sie, als hätte sie auf den Anstoß des jungen Mädchens nur gewartet. Mit drei jungen Palästinenserinnen im Auto fuhr sie beim ersten Mal los, raus aus der Enge des patriarchalischen Dorfs, raus aus den besetzten Gebieten.
Weil die Situation für die Menschen, die unter israelischer Besatzung leben, immer unerträglicher wird, "ist es nötig, einen zivilen, gewaltlosen Protest zu organisieren", sagt Hammerman. Die Tochter zionistischer Kommunisten, die den Nazis entkamen und Deutschland noch Jahrzehnte nach dem Krieg boykottierten, hat in Deutschland promoviert. Ihren an Leukämie verstorbenen Mann, den deutschen Literaturwissenschaftler Jürgen Nieraad, lernte Hammerman in Bielefeld kennen (Koautor ihres auf Deutsch erschienenen Buchs "Ich wollte, dass du lebst. Eine Liebe im Schatten des Todes", Aufbau-Verlag).
"Gesetze sind nicht heilig", sagt sie und klingt dabei wie eine 68erin. Der Spruch will nicht recht passen zu der Bürgerlichen, die mittags nicht ohne Suppe, Hauptgang und Nachtisch auskommt, weil sie es so von zu Hause gewohnt ist. Sie ist der Typ Mensch, der nicht bei Rot über die Straße geht, auch wenn er es eilig hat. "Wo Gesetze ungesetzlich sind, ist ziviler Widerstand unerlässlich", beharrt sie und weigert sich, es einfach gut zu haben, wenn nur 20 Autominuten entfernt Menschen leiden.
Siedler erstatten Anzeige
Es ging ganz leicht. Kurz vor dem militärischen Kontrollpunkt nahmen die auf dem Rücksitz von Hammermans Kleinwagen sitzenden Mädchen ihre Kopftücher ab. Die Soldaten winkten sie durch. Die schlanke Mittsechzigerin, die mit dunkelbraunen schulterlangen Locken, Sonnenbrille und vor Angst zitternden Knien am Steuer saß, erregte keinen Verdacht, und auch die jungen Palästinenserinnen nicht mit ihrem langen, offenen Haar, "geschmackvoll geschminkten Gesichtern und modischen Jeans", wie Hammerman später schreibt. Sie besichtigten das Unigelände, gingen auf den Flohmarkt, in ein Strandcafé und zum Meer – ohne aufzufallen.
"Einmal Tel Aviv und zurück" war Hammerman nicht genug. Sie verfasste einen Bericht über ihr sträfliches Handeln, das im Ernstfall mit zwei Jahren Haft geahndet werden kann. Sie schrieb detailgetreu, allerdings ohne die Namen ihrer Bekannten aus dem Westjordanland preiszugeben. Nur den eigenen Namen setzte sie unter den Text, den die liberale Ha'aretz im Mai letzten Jahres veröffentlichte. Hammermans Geständnis trug die Überschrift: "Wenn es ein Paradies gibt".
Nicht lange nach der Veröffentlichung erstattete das "Legal Forum for the Land of Israel", eine radikal national-religiöse Siedlergruppe, Anzeige wegen "illegalen Transports eines fremden Bürgers nach Israel". Hammerman wird zum Verhör vorgeladen. Noch auf der Stufe zum Revier beginnt sie ein Gespräch mit der für sie zuständigen Polizeibeamtin. Die beiden rauchen und reden über Camus, den Hammerman ins Hebräische übersetzt hat und von dem die Beamtin genauso wenig gehört hatte wie von Nietzsche. "Wie ist das möglich?", fragt Hammerman die Beamtin, ehrlich schockiert über die marode Bildung bei der Polizei.
Das Verhör endet ohne Verfahren. Bevor Hammerman auf ihr Fahrrad steigt, muss sie noch für Fahndungsfotos stillstehen und ihre Fingerabdrücke dalassen. Ob sie es wiedertun würde, fragt die Beamtin. "Mit Sicherheit", sagt die Wiederholungstäterin vergnügt. "Noch oft."
Durch den Artikel auf Hammermans gezielten Akt zivilen Ungehorsams aufmerksam geworden, schließen sich ihr mehr israelische Frauen an. Sie bilden die Gruppe "Lo Mezaitot" (Wir gehorchen nicht) mit inzwischen gut drei Dutzend Aktivistinnen, die alle paar Wochen palästinensische Frauen aus dem Westjordanland herausschmuggeln. Der Kontakt zu den Frauen ist unmittelbarer und gleichzeitig unkomplizierter dem Militär wie den traditionellen Familien in den Dörfern gegenüber. Hammerman hatte gezielt den Kontakt zu Frauen gesucht, als sie anfing, Arabisch zu lernen. "Die Männer sprechen fast alle Hebräisch oder Englisch."
Die Kommunikation ist mühsam
Mit der Sprache, die sie seit fünf Jahren paukt, kommt sie gut zurecht. Besser als die meisten anderen israelischen "Ungehorsamen", die jetzt teilweise auch Arabisch lernen, aber vielleicht nicht über das geschulte Ohr der Übersetzerin verfügen. So ist die Kommunikation unter den Frauen mühsam. Mit den Händen und ein paar Brocken Arabisch verständigen sie sich über das Nötigste. Die Israelinnen sind allesamt hellhäutig, mittleren Alters, aus dem gehobenen Mittelstand und mit europäischen Wurzeln. Die Palästinenserinnen sind deutlich jünger; drei junge Mädchen sind dabei, eine Mutter mit ihrem Baby und mehrere noch nicht verheiratete Frauen.
In Tel Aviv angekommen, geht Hammerman herzlich auf die arabischen Frauen zu, die zum ersten Mal dabei sind und die sie bei dem kurzen Treffen am Eingang zu ihrem Dorf noch nicht einzeln begrüßt hatte. "Ich will nicht den ganzen Tag mit ihnen an den Strand", sagt sie, wegen der großen Hitze, außerdem sei das Meer voller Quallen. Mit wenig Begeisterung lassen sich die Palästinenserinnen schließlich über den Kunstmarkt von Tel Aviv führen.
"Wir haben kein Geld dabei", sagt eine der jungen Frauen und löst Betretenheit aus. Eine der Israelinnen geht los und kauft Softeis. "Banane oder Schokolade", fragt sie und drückt jedem eins in die Hand. Die Gruppe schiebt sich durch das Tel Aviver Wochenendgewühl in der Fußgängerzone. "Das hier ist Palästina", stellt eine der Palästinenserinnen trocken fest. "Das ist unsers." So einfach ist es doch nicht mit der Annäherung.
Die Palästinenserinnen bleiben dicht beieinander, tuscheln und lachen, als sie eine Künstlerin mit halb geschorenem Kopf sehen. "Unsere Handarbeiten sind schöner", sagt eine trotzig. "Das mag stimmen", gibt eine Israelin zurück. "Aber ihr macht immer das Gleiche, und hier gibt es so eine Vielfalt." Sie ist beleidigt, hatte auf mehr Interesse, Offenheit und vielleicht sogar Zuneigung gehofft.
Eine schlichte Kleiderboutique lockt die Gruppe schließlich mehr als das israelische Kunsthandwerk. "Wir sind neugierig aufeinander", sagt Hammerman später, "aber wir werden uns nicht unbedingt gegenseitig akzeptieren."
Die Frauen aus dem Westjordanland riskieren Verhaftungen und Bußgelder, wenn sie erwischt werden. Die Gruppe fährt ins arabische Jaffa, wo sie weniger auffällt. Auf dem Weg zum Restaurant geraten die Autos in einen Stau. Die jungen Mädchen beschweren sich über Langeweile und Hitze. Erst beim Essen bessert sich die Stimmung, und am Strand zählt nur noch das Meer.
Der Strand ist das, worauf sich die Palästinenserinnen schon den ganzen Tag gefreut haben. In dünnen Trainingsanzügen oder mit hochgekrempelten Hosen nähern sie sich behutsam dem Wasser. Viele von ihnen waren noch nie am Meer. Sie fotografieren sich gegenseitig, lachen, spritzen sich nass, flüchten vor den Wellen oder springen darüber. Sie toben stundenlang, jetzt endlich zusammen mit den israelischen Frauen.
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