Pädagoge über junge Muslime: "Sexualmoral wie in den 50ern"
Obwohl die wenigsten Muslime zuhause aufgeklärt werden, haben viele keine Probleme, über Sex zu sprechen. Trotzdem haben sie konservativere Vorstellungen, so Pädagoge von Wensierski.
taz: Herr von Wensierski, Sie haben untersucht, ob muslimische Jugendliche ihre Jugend anders erleben als Nichtmuslime. Ist das der Fall?
Die zentrale Frage der an der Universität Rostock vorgestellten Untersuchung "Junge Muslime in Deutschland" ist, ob Muslime in Deutschland ihre Jugend anders erlebten als Nichtmuslime. Für die Studie wurden innerhalb von zwei Jahren in Berlin, Hamburg und anderen Großstädten mehr als hundert muslimische Jugendliche befragt, die in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind. Die Erfassung enthalte keine Statistiken, sondern gebe "einen Überblick über die Vielfalt muslimischer Jugendkultur in Deutschland".
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HANS-JÜRGEN VON WENSIERSKI, 54, ist Professor für Erziehungswissenschaft und Dekan der philosophischen Fakultät an der Universität Rostock.
Hans-Jürgen von Wensierski: Manche Entwicklungen sind ganz ähnlich: etwa die verlängerten Bildungsphasen oder die im Vergleich zu den Müttern stärkere Berufsorientierung bei jungen Frauen. Aber es gibt sehr große Unterschiede im Bereich Familie, Partnerschaft und Sexualität. Die Sexualmoral der jungen Muslime entspricht in vielem dem, was wir aus den 50er-Jahren kennen.
Was heißt das konkret?
Ein großer Teil unserer Interviewpartner hat eine ausgesprochen asketische und verbotsorientierte Sexualmoral, also: kein Sex vor- und außerhalb der Ehe, keine sexuelle Erfahrungen im Jugendalter. Das heißt auch: Die Jugendlichen werden zu Hause nicht aufgeklärt, dort wird über Sexualität nicht gesprochen. Damit einher geht eine starke Sexualisierung insbesondere des weiblichen Körpers, der wiederum tabuisiert wird.
Wenn man sich in deutschen Großstädten umschaut, hat man nicht den Eindruck, dass junge Musliminnen ihren Körper durchweg tabuisieren: Es gibt viele junge Frauen, die ein Kopftuch tragen, sich körperbetont und mitunter auch sexy kleiden. Wie passt das zusammen?
Die Kleidung kann körperbetont und stylish sein, aber sie werden diese Frauen nicht mit Minirock und tiefem Ausschnitt sehen. Sexualisierung heißt hier vor allem das Bloßstellen nackter Haut. Manche Strömungen - wie zum Beispiel der Popislam - versuchen ja sogar, einen streng konservativen Islam und eine Popästhetik unter einen Hut zu bringen. Aber auch bei Frauen ohne Kopftuch und mit Minirock kann man nicht unbedingt vom Outfit auf die Moral- und Wertvorstellungen schließen. Wir haben zum Beispiel einige junge Alevitinnen befragt, die kein Problem mit freizügiger Kleidung haben. In ihren Familien herrschen aber dennoch strenge Wertorientierungen in Sachen Sexualität und Partnerschaft.
Haben die Jugendlichen wirklich keinen Sex vor der Ehe? Oder reden sie nur nicht drüber?
Nein, die meisten halten sich wirklich an diese Verbote. Das zeigen nicht nur unsere biografischen Interviews, sondern auch quantitative, repräsentative Studien. Die Jugendlichen fügen sich nicht nur den Erwartungen der Eltern, sie teilen diese asketische Sexualmoral auch.
Hadern die Jugendlichen mit diesen Vorstellungen? Schließlich leben sie nicht in den 50er-Jahren.
Nein, die meisten finden diese Wertvorstellungen in Ordnung. Sie werden sogar als identitätsstiftende Elemente gegen die äußere Umwelt behauptet. Mit einer Art trotzigem Stolz verteidigt man die eigene Jungfräulichkeit, die sexuelle Enthaltsamkeit. Wir hatten in unseren Interviews durchaus Frauen Mitte 20, die einen Freund haben, und mit dem sexuelle Enthaltsamkeit leben. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied zur Elterngeneration: Die jungen Muslime sind diskursfähig. Sie können unbefangen über Sexualität reden. Insofern muss man eigentlich von einer Gleichzeitigkeit der Sexualmoral der 50er- und der 90er-Jahre sprechen.
Was bedeutet das?
Die Jugendlichen wachsen ja in einer durch und durch sexualisierten Alltagskultur auf. Sie sind gewohnt, dass in der Schule über Sex geredet wird, sie nehmen am Aufklärungsunterricht teil. Nur anders als es bei Deutschen zu beobachten war, geht diese Enttabuisierung nicht mit einer Liberalisierung einher.
Gilt das alles auch für die Männer? Ist das Bild vom jungen muslimischen Mann, der bei Frauen auf Jungfräulichkeit pocht und sich gleichzeitig seine eigenen sexuellen Erfahrungen bei Frauen außerhalb der eigenen Community holt, also nur ein Vorurteil?
Nein. Es gibt diese Doppelmoral bei jungen Männern. Aber auch bei ihnen dürfen die Eltern in den meisten Fällen von den Beziehungen nichts wissen, oder zumindest wird der Schein gewahrt. Interessanterweise ändern aber auch die eigenen sexuellen Erfahrungen nichts an den Werten dieser jungen Männer. Sie sagen nicht: Unsere Sexualmoral ist überholt. Im Gegenteil. Insbesondere am Ende der Jugendphase werden diese Erfahrungen eher als Fehltritte gewertet. Allerdings wiegen diese Fehltritte bei Frauen weit schwerer, weil die Jungfräulichkeit durch das Jungfernhäutchen überprüfbar ist und durch die Ehre auch noch ideologisch überhöht wird.
Ist diese Doppelmoral die Ausnahme oder die Regel?
Weder noch, aber selten ist sie nicht.
Wie rechtfertigen die Männer ihre Doppelmoral?
Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel. Wir haben zum Beispiel einen jungen Mann aus einer Milli-Görüs-Familie befragt, der als Kind diese islamische Szene gehasst hat. In seiner Jugend hat er alles mitgenommen, was westliche Jugendkultur zu bieten hat: Alkohol trinken, Frauen aufreißen und bis in die Nacht feiern. Gleichzeitig ist er weiter in die Moschee gegangen und hat fünf oder sechs Jahre lang ein Doppelleben geführt. Einen liberalen Lebensentwurf hat er trotzdem nicht entwickelt, im Gegenteil: Als Student hat er sich wieder auf die islamischen Werte besonnen.
Wie kam das?
Als er zum Studium in eine andere Stadt musste, hat er sich an dem orientiert, was er kannte: am Moscheeverein und anderen muslimischen Studenten. Gemeinsam mit diesen kam es zu einer Rückbesinnung auf einen strengen islamischen Lebensstil.
Woran liegt das? Hat er seine Sturm- und Drangphase nicht genossen?
Doch, aber im Rückblick negiert er sie als seine "ungläubige Phase". Und besinnt sich dann wieder auf seine traditionellen islamischen Werte, die das wirklich Wichtige im Leben sind.
Gibt es denn auch Versuche, aus diesen engen Grenzen wirklich auszubrechen?
Ja, die gibt es, aber es sind die Ausnahmen. Wir haben zum Beispiel eine junge Frau interviewt, die aus einem religiösen Elternhaus kommt und den Eltern ihren deutschen Freund verschwiegen hat. Irgendwann hat sie dieses Doppelleben nicht mehr ausgehalten, ist von zu Hause abgehauen. Aber mit Anfang 20 ist sie zurück ins Elternhaus gezogen. Es gibt Ausbrüche aus diesen strengen Vorgaben, aber die führen viel seltener zum wirklichen Bruch als in nichtmuslimischen Familien. Einen wirklichen Bruch gab es nur bei einem unserer Interviewpartner - und wir haben über hundert Interviews geführt.
Wie erklären Sie sich das?
In den muslimischen Familien ist die Bindungskraft traditioneller Familienstrukturen immer noch sehr groß. Wenn man sich die Leitbilder anschaut, gibt es zur traditionellen Familie noch immer keine Alternative. Die Ehe ist ein Muss, eine legitime Alternative dazu gibt es nur selten. Wenige unserer Gesprächspartner hatten die Idee, man könnte mit einem Partner unverheiratet zusammenleben. Scheidungen, Geburtenrückgänge und die Berufstätigkeit von Frauen führen real zwar zu Modernisierungsprozessen in den Familien, aber kaum zu alternativen Lebensentwürfen.
Irgendwann muss sich das Leitbild aber doch der Realität annähern …
Ja, und ich setzte dabei auf den Wandel bei den jungen Frauen. Auch die religiösen jungen Frauen entwickeln zunehmend eigenverantwortliche, tendenziell gleichberechtigte Frauenrollen. Sie würden sich nicht mehr den Anforderungen eines Mannes einfach fügen, sondern sie wollen Selbstbestimmung und Emanzipation. Allerdings gibt es nicht genug Männer, die bereit sind, sich darauf einzulassen.
Wie sehen die Vorstellungen dieser Frauen konkret aus?
Noch ein Beispiel: Eine unserer Interviewpartnerinnen kommt aus einem streng religiösen Elternhaus, ihre Eltern waren bei Milli Görüs. Mit 13 haben die Eltern das Mädchen auf ein islamisches Internat in die Türkei geschickt, weil sie Angst hatten, dass das Kind hier verdorben wird. Als sie nach fünf Jahren zurückkam, war sie aber nicht die gefügige Tochter, die sich ihre Eltern gewünscht haben: Sie ist selbstständig, hat gelernt sich zu behaupten, will ihren Lebensweg selbst bestimmen. Sie heiratet zwar mit Anfang 20, fügt sich ihrem Mann aber nicht, kocht höchstens alle zwei Wochen mal und will auch keine Kinder. Das ist natürlich eine Ausnahme. Aber die selbstbewusste Neomuslimin, die Karriere machen will und dennoch eine starke Familienorientierung hat, gibt es schon häufiger. Und diese Frauen haben zwar weiter diese traditionelle Sexualmoral, vom Sex in der Ehe erwarten sie aber Lust und Befriedigung auch für sich.
Wie sieht es in säkularen Familien aus?
Auch dort haben viele ganz traditionelle Wertvorstellungen in Sachen Partnerschaft und Sexualität. Lediglich in der kleinen Gruppe der Bildungsaufsteiger gibt es Liberalisierungstendenzen.
INTERVIEW: SABINE AM ORDE
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