Pädagoge Wocken über Sonderschulen: "Heimat des Subproletariats"
Kinder von Sonderschulen stammen meist aus sehr armen Familien. Je länger sie dort lernen, um so stärker bleiben sie hinter ihrem Altersdurchschnitt zurück, sagt Pädagoge Hans Wocken.
taz: Herr Wocken, was zeichnet die Sonderschulen für Lernbehinderte heute aus?
Hans Wocken: Es ist eine Schule für Kinder aus sozial und kulturell stark benachteiligten Familien. 37 Prozent der Schüler dort haben arbeitslose Väter, 40 Prozent der Kinder sind Zuwanderer, bei denen kaum deutsch gesprochen wird. Bei den Sonderschülern gibt es kaum Bücher zuhause und bei vielen läuft der Fernseher länger als drei Stunden täglich. Lernbehindertenschulen sind die Heimat des Subproletariats...
Pardon, hilft eine so veraltete Kategorie, um das Problem zu beschreiben?
Ich finde ja. Das Familieneinkommen von einem Viertel der Sonderschuleltern liegt unter 20.000 Euro Einkommen pro Jahr - deutlich unterhalb des Einkommens von Arbeiterfamilien. Nennen Sie es meinetwegen Prekariat oder Unterschicht, aber die Verfassung erlaubt solche Schulen nicht.
Warum nicht?
Im Grundgesetz steht, dass Schulen nur errichtet werden dürfen, wenn dadurch eine "Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird".
Sie zitieren einen Artikel, der sich auf private Schulen bezieht.
Richtig, aber wenn schon Privatschulen nicht Schichten erzeugen dürfen, dann doch bitte erst recht nicht staatliche Schulen.
Die Lehrer von Sonder- oder Förderschulen finden ihre Aussagen oft demütigend. Sie sagen: Wir fördern ganz besonders gut.
Die Sonderschullehrer sind an dieser Misere nicht schuld. Es sind idealistische Menschen - aber sie können die strukturellen Mängel des Schultyps nicht durch besonderes Engagement wettmachen. Der Grund für meine Untersuchung war, herauszufinden, ob Förderschulen eigentlich fördern. Das Gegenteil ist der Fall. Förderschüler sind zwei bis drei Lernjahre hinter Regelschülern zurück. Je länger die Kinder auf Förderschulen sind, desto schlechter sind ihre Leistungen. Selbst der Intelligenzquotient ist bei Langzeitförderschülern niedriger...
Was daran liegen kann, dass man eben als erstes die Kinder mit niedrigem IQ findet und aus der Regelschule aussortiert...
... das ist sicherlich ein Faktor, aber das muss uns doch bekümmern. 1864 konnte man sagen, dass in den unteren Volksschichten die Zahl der Schwachsinnigen grassiert, aber doch nicht mehr 150 Jahre später. Diese Kinder sind nicht schwachsinnig, sie brauchen keine reduktive Didaktik, sondern Herausforderungen.
Manche Forscher sagen: "Dem Minus-Kind ist logischerweise Minus-Unterricht angemessen".
Nein, das dürfen wir nicht tun. Die Pädagogik des Weniger, Langsamer und Einfacher erzeugt eine kognitive Friedhofsruhe.
Was schlagen sie vor? Die Sonderschulen abschaffen?
Die Sonderschulen für Lernbehinderte müssen abgeschafft werden, und zwar schnell. Bei den anderen Sonderschulen für körperlich und geistig Behinderte geht das sicherlich nicht sofort und bedingungslos. Aber auch deren Eltern müssen die Wahl haben, ihr Kind in eine normale Schule zu schicken.
In eine Schule für alle, wie es der Kongress hier fordert?
Nicht jede Schule kann über Nacht Schule für alle werden. Wir sollten mit den Grundschulen anfangen. Sie sollten konsequent zu Ganztagsschulen ausgebaut werden, die sechs Jahre dauern und auch alle Schüler mit Lernschwierigkeiten aufnehmen.
Sind sie didaktisch dafür gerüstet?
Ich glaube ja. Die Grundschulen sind die besten Schulen, die wir haben. Die Lehrer dort haben die meiste Kompetenz im Umgang mit heterogenen Gruppen. Das muss erweitert werden.
Machen das die Eltern nicht behinderter Kinder denn mit?
Es gibt verbreitete Ängste, dass behinderte Kinder alles nach unten ziehen. Wissenschaftlich ist das nicht nachweisbar. Die Anwesenheit von behinderten Kindern senkt nicht das Niveau, sie verändert im Gegenteil die Atmosphäre oft zum Positiven.
INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER
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