Outsider Art: Das Leben ist eine Schlange

Jahrzehntelang war das Spätwerk des Landschaftsmalers Georg Müller vom Siel unbekannt. Nun zeigt eine Ausstellung die rätselhaften Zeichnungen aus seiner Zeit in einer Nervenheilanstalt.

30 Jahre isoliert in der Anstalt: die undatierte Zeichnung "Ich.Selbst" von Georg Müller vom Siel. Bild: Sven Adelaide/Landesmuseum Oldenburg

OLDENBURG taz | In den letzten Jahren wurden in der Kunstwelt immer wieder die Werke geistig behinderter und psychisch kranker Menschen als Entdeckungen gefeiert. Einen Höhepunkt dieses Trends bildete im letzten Jahr die 55. Venedig-Biennale. Dort zeigte der künstlerische Leiter Massimiliano Gioni in der Hauptschau eine ganze Reihe von Arbeiten, die der „Outsider Art“ zuzurechnen sind, also von Menschen stammen, die sich jenseits der Norm am Rand der Gesellschaft bewegen.

Gioni wurde dafür mit Lob überhäuft: Die Werke faszinierten das Publikum. Die Werke wirkten unabhängig, denn sie waren außerhalb jedes ästhetischen Kanons entstanden, ohne einem Kalkül oder einer Mode gefolgt zu sein. Außerdem boten sie die Möglichkeit, in andere, rätselhafte Welten zu tauchen.

Eine ebenso rätselhafte Bilderwelt ist zurzeit im Prinzenpalais des Landesmuseums Oldenburg zu entdecken. Dort wird das Spätwerk des Landschaftsmalers Georg Müller vom Siel gezeigt, fast 180 Zeichenbögen, die in dreißig Jahren Psychiatrie entstanden sind. Die Ausstellungsmacher preisen sie als eine „herausragende Entdeckung der Outsider Art“. Doch etwas unterscheidet Müller vom Siel von den meisten Vertretern dieser Kunstrichtung: Er ist kein Laie. Bereits vor seiner Erkrankung war er künstlerisch tätig und damit sehr erfolgreich.

Georg Müller vom Siel, im Jahr 1865 an der Nordsee geboren, hatte in New York gelebt und sich an den Kunstakademien in München, Antwerpen und Paris ausbilden lassen. Bekannt war er für seine großformatigen Ölgemälde, auf denen er die wechselvollen Lichtspiele seiner Heimat auf Leinwand brachte. Für den Oldenburger Großherzog fertigte er zudem Kopien bekannter Gemälde.

Müller vom Siels Domizil in Dötlingen war ein beliebter Künstlertreff, auf Kunstausstellungen gewann er Preise. Dann erkrankte er an Depressionen, bekam Wahnvorstellungen und wurde 1909 in die Nervenheilanstalt Wehnen eingeliefert.

Aus dem beliebten und erfolgreichen Künstler wurde über Nacht ein Außenseiter. Müller vom Siel war abgeschrieben und fristete die nächsten dreißig Jahre, bis zu seinem Tod 1938, ein isoliertes Leben in der Anstalt.

Lange Zeit galt seine Erkrankung auch als das Ende seines künstlerischen Schaffens. Doch das entsprach nicht den Tatsachen: Auch in seiner Zeit in Wehnen war der Maler kreativ tätig. Neben Collagen fertigte Müller vom Siel Handarbeiten, malte neue große Gemälde und schuf ein interaktives Spiel aus farbigen Bändern.

Davon drang jedoch fast nichts an die Außenwelt. Angehörige, Ärzte und Freunde hielten seine Werke unter Verschluss, denn sie werteten sein Schaffen als Symptom der Geisteskrankheit. So sind die Arbeiten aus dieser Zeit nicht erhalten geblieben.

Eine Ausnahme bildet die jetzt im Landesmuseum ausgestellte Bildserie. Warum sie erhalten blieb, ist nicht geklärt. 1970 gingen die Blätter jedenfalls in den Besitz des Landesmuseums Oldenburg über und werden nun, 40 Jahre später, erstmals zusammenhängend präsentiert.

Die größtenteils farbigen Aquarelle werden von Figuren, Symbolen und geometrischen Ornamenten bevölkert. Immer wieder sind Kreise abgebildet sowie erigierte Phalli, Schlangen und Adler. Neben den Abbildungen tauchen Sätze auf, die einer scheinbar eigenen Logik folgen. So wie dieser hier: „Das Leben ist Welle und Erde. Das Leben der Erde ist Schlange. Die Schlange ist das Bild des Welterlebens.“ Es ist ein geschlossener, fremder Kosmos, in den der Betrachter bei Müller vom Siel eintaucht, eine esoterisch anmutende Bildwelt.

Parallelen zu Müller vom Siels Werk finden sich bei den Theosophen und in verschiedenen Kosmologien. Doch noch auffälliger sind die Ähnlichkeiten zu Werken anderer Psychiatrieerfahrener seiner Zeit, wie sie sich etwa in der Sammlung Prinzhorn finden.

Diese geht auf Hans Prinzhorn zurück, einem Assistenzarzt an der psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg und zählt zu den bedeutendsten Sammlungen bildnerischer Werke von Psychiatriepatienten. 1922 publizierte Prinzhorn eine Auswahl in seinem Buch „Bildnerei der Geisteskranken“, das einen erheblichen Einfluss auf wichtige Künstler der Moderne wie Paul Klee, Alfred Kubin oder Max Ernst, hatte.

In Oldenburg sind einige der Exponate aus der Sammlung Prinzhorn den Zeichnungen Müller vom Siels gegenüber gestellt. Auch dort entdecken wir gedrängte, teilweise verstörende Symbolwelten, die den enigmatischen Bildern Müller vom Siels sehr ähnlich sind. Wie bei Georg Müller vom Siel begegnen uns in den Biografien ihrer Urheber auch Schicksale von Isolation und Ausschluss. Es sind Fälle, die zeigen, wie lange Zeit mit Menschen, die außergewöhnliche psychische Erfahrungen machen, umgegangen wurde.

Die Aufmerksamkeit, die derzeit der Kunst von Außenseitern zuteil wird, könnte im Kontext eines sich wandelnden Umgangs mit psychisch Kranken gesehen werden. Aber noch mehr steht dahinter die Sehnsucht nach anderen Sichtweisen auf unsere Wirklichkeit, die so oft als alternativlos dargestellt wird.

Ausstellung „Der andere Müller vom Siel“: bis 24. August, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Oldenburg
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