Oste-Schwebefähre: Ein kleines bisschen Zeitreise
Sommer im Museum (2): Der Verkehr von Menschen und Waren nimmt längst andere Wege, aber es gab eine Zeit, da ging zwischen Osten und Hemmoor nichts ohne die Schwebefähre. Sogar der spanische König war schon da.
OSTEN/HEMMOOR taz | Für den Hinweg braucht es sechs Minuten, für den Rückweg auch. Es ruckelt ein wenig, dann setzt sich, fast unmerklich, das Ding in Bewegung, und bald ist der Fahrgast über der Mitte des Flusses.
Er hat also Recht behalten, der milchkaffeebraune Labrador: Nur sehr, sehr vorsichtig mochte er das Gefährt betreten, ließ sich sogleich unter einer der Bänke nieder und sah, leicht misstrauisch, dem Mann mit der Schiffermütze zu. Der drückte auf ein paar Knöpfe - und los ging die Fahrt: einmal vom Ort Osten über den Fluss Oste rüber in den Ort Hemmoor und, nach einer kurzen, Pause wieder zurück.
"1945, da war ich fünf, da haben mich die Fährleute zum ersten Mal die Fähre bedienen lassen", erzählt Horst Ahlf. Er ist Besitzer des "Fährkrugs" samt Kaffeegarten, oben auf dem Ostedeich, gleich neben der Anlegestelle für die Schwebefähre. Ahlf hat die Gaststätte von seiner Mutter übernommen, Anfang der 60er Jahre.
Sein Leben ist eng mit der Schwebefähre verknüpft: "Wir standen senkrecht im Bett, als die am 31. Mai 1974 ihren Betrieb einstellte", erzählt er. "Es fehlte einfach das Geräusch." Damals sollte die Schwebefähre abgerissen und verschrottet werden. Aber es gab ja Horst Ahlf, der sogleich den Verein "Fördergesellschaft zur Erhaltung der Schwebefähre Osten - Hemmoor" gründete. Und der zuerst dafür sorgte, dass die Fähre den Titel eines Bau- und Industriedenkmals verliehen bekam.
Warum nicht, gerade im Sommer, das aufspüren, was die Peripherie oder, gut versteckt, die eigene Stadt so an Kultur zu bieten hat? Das kann bedächtig, muss aber nicht verschlafen sein, sondern im Gegenteil: engagiert, bodenständig, mal öffentlich, mal privat und im besten Sinne facettenreich. Wir stellen einige Museen, Gedenkorte, Initiativen der Region vor, die zu besuchen sich lohnen könnte - wenn auch, vielleicht, nicht für jede und jeden.
Um das mit der Ostener Schwebefähre in all seiner Bedeutung wenigstens annähernd zu verstehen, muss man sich ein bisschen Zeit nehmen und Horst Ahlf zuhören. Und eintauchen in die Geschichte von Osten: Lange war Osten ein ganz normaler, unscheinbarer Ort im Ostetal, eben am namensgebenden Fluss Oste gelegen, der nahe Tostedt entspringt und östlich von Otterndorf in die Elbe mündet. 1220 erstmals urkundlich erwähnt, wurde der Ort 1526 evangelisch, 1645 von den Schweden besetzt sowie1712 von den Dänen.
1842 brannte elbaufwärts die Innenstadt von Hamburg ab - und parallel setzte mit Wucht die Industrialisierung ein: "Osten wurde damals zwischen Hamburg und Cuxhaven der reichste Ort", erzählt Ahlf. "Der Ort hatte 700 Einwohner - und 139 Gewerbebetriebe. Es gab 17 Ziegeleien, fünf Werften, ein Zementwerk, wir hatten ein eigenes Gaswerk und damit eine eigene Gasversorgung. Hier haben damals 15.000 Industriearbeiter gearbeitet. Es gab hier keine Bauern", sagt der Gastwirt.
Dazu kamen 21 Gaststätten, darunter vier Hotels. Und auf der Oste waren damals Segelschiffe unterwegs - nach Buenos Aires, nach New York: "Der Zement etwa, aus dem die Freiheitsstatue gebaut wurde, der kam von hier, aus Osten."
Was dagegen an Waren, an Material von Osten auf die andere Seite der Oste transportiert werden sollte, musste auf die Prahmfähre gepackt werden, die regelmäßig pendelte. Das aber reichte bald nicht mehr aus, erst recht nicht, als 1881 die Eisenbahnlinie Harburg-Cuxhaven gebaut wird: Die nämlich bekam nicht in Osten einen Halt, sondern drüben in Hemmoor. Umso dringender wurde es nötig, eine reibungslose Verbindung zwischen den beiden Orten zu haben - und zwar das ganze Jahr über, auch im Winter.
"Die Oste friert im Winter kaum zu, die hat Eisgang", erläutert Ahlf. Und muss sich kurz dem Wesen des Flusses widmen: "Die Oste hat hier bei uns eine Tiefe von elf Metern; sonst hat sie eine Tiefe von bis zu 24 Metern - ohne künstliches Ausgebaggere." Zum Vergleich: Die Elbe bringe es auf sechs bis neun Meter, die Weser auf vier bis sechs. Und die Gezeiten, Hub und Tide, schlügen an der Oste voll durch: "Das Eis geht hier also hoch und runter und friert nicht fest."
Die Ostener kamen ins Nachdenken. Wie sollen sie das bewerkstelligen? Nicht zu vergessen, der rege Verkehr zu jener Zeit: Bis zu 14.000 Schiffspassagen zählte man etwa im Jahre 1896, darunter eben auch Segler mit Masten von 30 bis 35 Metern Höhe. Bei dieser Frequenz stellte der Bau einer Hub- oder Drehbrücke keine Alternative dar.
Nun wird die Perspektive von Erzähler Ahlf eine europäische: Die Probleme der Ostener sprachen sich herum, und Schwebefähren gab es zu jener Zeit vor allem in England und Frankreich. Doch die Lösung kam am Ende aus Berlin: Der Ingenieur Max Pinette konstruierte das passende Gefährt: Kommt ein Schiff, hält die Fähre. Ist das Schiff durch, fährt die Kabine weiter.
Aber damit nicht genug: Die Ostener Schwebefähre "ist die einzige, die von Anfang an mit Strom betrieben wurde und nicht mit Dampf", weiß Horst Ahlf. "Und sie ist die einzige, wo die Fahrkabine nicht an Seilen hängt, sondern an einem Gestänge." Stolz nimmt er einen Schluck Kaffee.
1908/09 wurde sie erbaut und sorgte fortan für einen reibungslosen Warentransport über die Oste. Keine Rolle spielt dagegen lange Zeit der Individualverkehr: "Bis weit in die Fünfziger hatten ja nur der Amtsrichter und der Doktor ein Auto."
Was sich bekanntlich änderte. Kurz lässt Ahlf den Autoboom der Sechziger und Siebziger Jahre auferstehen: "Besonders am Wochenende standen hier die Autos kilometerlang Schlange und wollten rüber. Das war zuletzt eine Geräuschkulisse wie in Hamburg im Hauptbahnhof."
Bald konnte die Fähre den Ansturm nicht mehr verkraften: Eine Brücke sollte her. Bis die fertig war, dauerte es Jahre: Der Boden ist moorig, Hunderte von Stahlrohren, gefüllt mit Beton, mussten hinein gerammt werden. Dann war sie da, mitsamt Umgehungsstraße. Die führte um den Ort herum, im Nu war man drüben - und die alte Fähre hatte ausgedient.
Aber eben nicht als eine Art Sehnsuchtsort, als leicht sentimentale Hommage an frühere, angeblich ruhigere Zeiten, die dann und wann zu Demonstrationszwecken in Betrieb genommen wird. Der Dichter Peter Rühmkorf, zu Gast im "Fährkrug", notierte: "Fenster zur Oste raus - scharfer Vollmond - das Ächzen und Kreischen der graustählernen Schwebefähre - heimatlich ungemütlich und an den Grundfesten meiner niedersächsischen Neurosen rührend."
Und wie geht es weiter mit der Schwebefähre? Horst Ahlf lehnt sich zufrieden zurück: 2014 dürfte es so weit sein und die Fähre wird aufgenommen in die Liste der Weltkulturerbestätten. Vielleicht wird auch erst 2015, aber kommen wird es, sagt er: "Wir haben die Unterstützung vom Land und vom Bund, die Unterlagen liegen bei der Unesco in Paris, alles sieht gut aus."
Hilfreich dabei war auch Ahlfs Gründung eines Weltverbandes der noch erhaltenen Schwebefähren samt prominenter Unterstützung: Verbandspräsident ist Spaniens König Juan Carlos I., der - natürlich - auch schon hier in Osten war, auf der Fähre und im "Fährkrug".
Jetzt muss Ahlf mal in die Küche. Es ist bald Mittag, Gäste kommen, die wollen was auf dem Tisch stehen haben. Aber er führt noch schnell rüber in "De FährStuv", das kleine Fährmuseum, wo man vieles von dem, was er an diesem Vormittag erzählt hat, in Ruhe nachlesen kann - plus manch technischem Detail und vielen Zahlen. Und wo auf einer Texttafel dank des Sozialdemokraten Ahlf auch die letzte Überfahrt der Philippsohns erwähnt wird: Die jüdische Familie aus Osten wird im November 1941 nach Minsk deportiert. Nur rüber über die Oste gingt es für sie, aber nie wieder zurück.
Von April bis Oktober fährt die Schwebefähre von 11 bis 17 Uhr zu jeder vollen Stunde ab Osten; im Restjahr nur nach Vereinbarung.
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