Ost-West-Dialog über das Gehirn: Plattform des Bewusstseins
Was haben Meditation und Hirnforschung miteinander zu tun? Darüber debattieren der Neurophysiologe Wolf Singer und der Molekularbiologe und Buddhist Matthieu Ricard.
Es wiegt knapp drei Pfund, hat die Form einer übergroßen Walnuss und die Konsistenz eines weichen Eis: das menschliche Gehirn. In ihm verbirgt sich der wohl komplizierteste Mechanismus im ganzen Universum. Hundert Milliarden Nervenzellen funken dort herum mit bis zu einer halben Trillion Verbindungen. Ungefähr so viele, wie es Blätter im Amazonas-Regenwald gibt.
Bis vor etwa 120 Jahren war das Innenleben des Gehirns nahezu unbekannt, heute hingegen versucht man jeden Winkel im Magnetresonanztomografen zu durchleuchten. Die Hirnforschung macht von sich reden, unter anderem in Gestalt von Wolf Singer - ein bekannter Name, wenn es um neueste Erkenntnisse geht. Vor allem in den letzten Jahren hat er für Diskussionsstoff gesorgt mit seinen Thesen zum freien Willen, den er für eine Illusion hält. Für Wolf Singer gibt es keine Kommandozentrale im Gehirn. Vielmehr sei unser wichtigstes Organ ein sich selbst organisierendes System: hochkomplex und nichtlinear. Was von dem vielen Gewussten, das unser Gehirn gespeichert hat, ins Bewusstsein komme, hänge vielmehr von vielen unbewussten Motiven ab.
Der Philosoph Jürgen Habermas hat ihn wegen dieser Sichtweise scharf kritisiert und besteht darauf, dass ein Handelnder dann frei sei, wenn er wolle, was er als Ergebnis seiner Überlegung für richtig halte. Dem, konterte Wolf Singer, habe er niemals widersprochen. Freisein sei eben ein gutes Gefühl und die Annäherung von Natur- und Geisteswissenschaft deshalb so wichtig, weil es auch um verbale Korrekturen ginge.
Nähere Einblicke in diese Zusammenhänge bietet der Band "Hirnforschung und Meditation", der in der Reihe der neuen edition unseld erschienen ist. Darin führen Wolf Singer und Matthieu Ricard, ein buddhistischer Mönch und Molekularbiologe, einen fruchtbaren Dialog. Gerade die Fremdheit ihrer beider Positionen, die unterschiedlichen Strategien zur Erkenntnisgewinnung waren es, die Wolf Singer faszinieren: "Wir im Westen mit unserem aufgeklärten Wissenschaftssystem, wir wenden unsere Aufmerksamkeit nach außen auf die berührbare Welt und versuchen, die Gesetzmäßigkeiten, die dort herrschen, analytisch zu erfassen. Und demgegenüber steht nun wirklich kontrastreich der Versuch, den asiatische Kulturen eingeschlagen haben und für die der Buddhismus paradigmatisch steht: durch das Lenken von Aufmerksamkeit nach innen zu ergründen, wie es sich mit der Verfasstheit der Welt und auch des Menschen verhält." Kennengelernt haben sich Wolf Singer und Matthieu Ricard auf einem Symposion im Andenken an den chilenischen Hirnforscher Francisco Varela. Dieser hatte sich bereits in den Achtzigerjahren intensiv um Gespräche mit buddhistischen Mönchen und dem Dalai Lama bemüht. Er war es auch, der die sogenannten Mind-and-Life-Konferenzen ins Leben gerufen hatte - Begegnungen zwischen Wissenschaftlern verschiedener Forschungsgebiete und Nationalitäten. Matthieu Ricard war bei diesen Treffen als Übersetzer des Dalai Lama dabei, zuvor hatte er in der westlichen Welt eine solide wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen und als Molekularbiologe "Hardcore Science" betrieben. Doch in seinem 30. Lebensjahr traf er während einer Urlaubsreise nach Burma auf einen Rinpoche, einen tibetischen Lama. Aus dieser für ihn faszinierenden Begegnung erwuchs schließlich ein dauernder Aufenthalt in Burma, Nepal und Tibet.
Ricard wurde zunächst zum Schüler und später Meister meditativer Praktiken und ist heute ein anerkannter buddhistischer Mönch. Der Buddhismus ist für ihn eine "kontemplative Wissenschaft" - eine Wissenschaft des Geistes mit einer Tradition von 2.500 Jahren. So kommt es, dass Singer und Ricard zwar ein unterschiedliches Vokabular benutzen, aber dieselben Vorgänge meinen. Spricht Matthieu Ricard von einem Zustand höchster Wachsamkeit in der Meditation, so erläutert Wolf Singer die gehirnphysiologischen Abläufe eines solchen Zustands. Bei Messungen im Magnetresonanztomografen hat Wolf Singer vor 15 Jahren ein auffälliges Signal entdeckt: hochsynchrone Schwingungen im 40- bis 50-Hertz-Bereich, die sogenannten Gammawellen. Im Vergleich haben Alphawellen, die wir mit einem Zustand angenehmer Entspanntheit verbinden, nur eine Frequenz von 10 Hertz. Wer also meditierenden Mönchen bei der Arbeit zusieht, stellt fest, dass diese hellwach und konzentriert sind. Ähnliches hat auch der amerikanische Hirnforscher Andrew Newberg festgestellt, der in seinem Buch "Der gedachte Gott. Wie Glaube im Hirn entsteht" von Untersuchungen mit meditierenden Mönchen und betenden Nonnen berichtet. Er beobachtete eine Überaktivität des Orientierungsfeldes im oberen hinteren Abschnitt des Gehirns. Und er beobachtete noch mehr als das: Diese Überaktivität führe zu einer Blockade eingehender Sinnesdaten und somit zu einem Umkehreffekt - das Orientierungsfeld "erblinde". Eine Erblindung, die das Gefühl des Einsseins, das in spirituellen Schriften als Höhepunkt mystischer Erfahrung beschrieben wird, ermögliche. Somit sei diese biologisch real und naturwissenschaftlich wahrnehmbar.
Was nun Wolf Singer besonders interessiert, ist, inwiefern sich das Gehirn langfristig durch die Meditation verändert. Dass die Leistungen unseres Gehirns unfassbar sind, zeigt das Beispiel der Savants eindrucksvoll. Der Engländer Daniel Tammet zum Beispiel kann die Zahl Pi bis auf 22.514 Stellen hinter dem Komma genau aufsagen. Allerdings ist das emotionale Leben der Savants autistisch verkümmert. Ein wechselseitiger Prozess: Weil sie nicht in soziale Beziehungen investieren können, lenken sie ihre Aufmerksamkeit auf andere Informationsquellen - mathematische Formeln, Landkarten und Telefonbücher. Im Sinne des Buddhismus werden soziale Kompetenzen und Empathiefähigkeit trainiert: Aufmerksamkeit, Altruismus, emotionale Ausgeglichenheit und Glück. Dieses Training hat tatsächlich konkrete Auswirkungen auf das Gehirn.
Die amerikanische Wissenschaftlerin Sara Lazar von der Harvard Medical School hat mit ihren Untersuchungen langjähriger Meditierender herausgefunden, dass die typische altersbedingte Abnahme der frontalen Großhirnrinde bei ihnen ausgeblieben ist. Mehr noch: Die frontale Großhirnrinde vergrößert partiell ihr Volumen. Und auch auf das Gefühlsleben hat die Meditation einen direkten Effekt - dies belegen die Versuche Tania Singers, der Tochter Wolf Singers, Hirnforscherin und Professorin an der Universität Zürich, mit Matthieu Ricard. Dieser kann emotionale Zustände wie Schmerz, Ekel, Mitgefühl und Freude bewusst und graduell herstellen. Das zeugt von einem feinen Differenzierungsvermögen und das wiederum von einer besonderen kognitiven Kontrolle.
Wie steht es also um den freien Willen des Menschen? Ein weites Feld, sagt Wolf Singer, im Gespräch mit Matthieu Ricard und schlägt vor, in einem nächsten Buch darauf zurückzukommen. Fest steht, dass auch die Buddhisten das Ich und dessen Willensfreiheit für eine Illusion halten: "Weil die nicht so sehr von der Autonomie des Ichs ausgehen, das allein für sich, verantwortlich, frei, jeweils das tun und lassen kann, was es will. Sondern das ist immer zu sehen im Gesamtkontext. Und auch die Buddhisten kommen zu dem Schluss, dass das Gehirn ein im Wesentlichen selbst organisierendes System sein muss. Das sehr verteilt organisiert ist und sich nur auf der Plattform des Bewusstseins vereint. Und das passt nicht schlecht zu dem, was die Neurobiologie auch sagt. Und passt überhaupt nicht zu dem, was zum Beispiel Descartes gesucht hat, nämlich so ein Zentrum im Gehirn, das alles macht", so Wolf Singer.
Der Dalai Lama ist selbst sehr stark am Austausch mit westlichen Wissenschaftlern interessiert. Insbesondere das Mind-and-Life-Institute in den USA, in dem auch Wolf Singer und Matthieu Ricard aktiv sind, bemüht sich um einen Dialog von Ost und West. Und natürlich lockt die Sehnsucht, das Unerklärliche erklärbar machen zu wollen. Was hat es mit dem menschlichen Bewusstsein auf sich? Ist es nur ein Produkt der Evolution? Der rumänisch-französische Philosoph Emil Cioran schrieb einmal: "Wegen all des Sibirischen, was sie beinhaltet, verlangt unsere Natur nach den Heiligen." Und der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade sah im Spirituellen eine unentrinnbare Kraft. Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren unser Bild vom Menschen infrage gestellt. Der Dialog mit dem Buddhismus verhindert, uns als kalte Bioautomaten zu begreifen - getrieben von unseren Genen und elektronischen Impulsen. In ihm kommen eine Liebe zum Menschsein und soziale Werte zum Tragen.
Und so erscheinen auch Wolf Singers Thesen in einem neuen Licht: Sie sind durchaus vereinbar mit der spirituellen und kreativen Dimension des Buddhismus. Der edition unseld ist es mit diesem Buch gelungen, ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden: eine aktuelle Debatte zwischen Natur- und Geisteswissenschaften transparent zu machen. "Hirnforschung und Meditation" ist keine verquarzte Fachsimpelei, sondern ein Blick in die Praxis. Das Match, das hier gespielt wird - Mönch trifft Hirnforscher -, lässt einen schmunzeln und gleichzeitig auch mit Neugier auf eine Fortsetzung warten.
Auch wenn die Tatsache absurd ist, dass die Hirnforschung erst heute auf die Idee kommt, das alte Wissen der buddhistischen Philosophie ernst zu nehmen und zu Rate zu ziehen: Die Offenheit beider Positionen, von Wolf Singer wie von Matthieu Ricard, sorgt dafür, dass dieser Dialog überhaupt stattfinden kann.
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