Oslo nach den Anschlägen: Die Utøya-Generation

Die Cafés in Oslo füllen sich wieder, Rosen sind ausverkauft, der Brunnen auf dem Youngstorget plätschert. Aber für die junge Generation hat sich die Welt verändert.

Überall in Oslo sind Rosen ausgeteilt. Bild: reuters

OSLO taz | Wenn eine Stadt doch immer so schön sein könnte. Zwei Tage nach der großen Gedenkfeier für die Opfer des Doppelanschlags ist Oslo immer noch voller Blumen. Jede Statue, jeder Brunnen, jede Parkbank ist behängt. Vor dem Dom muss die Straßenbahn weiterhin ihre Linienführung ändern, da sich der Blumenteppich über die Kreuzung erstreckt.

Weil es nicht so heiß ist und die Sonne kaum geschienen hat in den letzten Tagen, wirken die Blumen erstaunlich frisch. Sie bleiben ein Mahnmal, das noch nichts wieder wirklich normal ist in Oslo - und dass die Menschen doch alles dafür tun, dass die Stadt am Leben bleibt.

Kaum eine Woche ist es her, dass der 32 Jahre alte Anders B. Breivik erst eine Bombe im Regierungsviertel zündete, dann auf die Insel Utøya fuhr und dort an die 70 Mitglieder der Jungsozialisten erschoss. Die Nachwuchspolitiker veranstalteten dort ihr traditionelles Sommerlager; Utøya ist seit Jahrzehnten die Insel der Arbeiterpartei, auch Regierungschef Jens Stoltenberg hat viele Sommer dort verbracht.

Jungsozialisten-Chef Eskil Pedersen war auf Utøya, als der als Polizist verkleidete Breivik begann, gezielt zu töten. Es gelang ihm, mit einem Boot zu fliehen. Am Dienstag steht der 27-Jährige auf dem Youngstorget-Platz am Rande des Regierungsviertels. Blass sieht er aus, schmächtig mit strengem Kurzhaarschnitt. Er hat eine Botschaft, deswegen hat er sich vor die Kameras gewagt.

"Utøya ist immer die Insel der Jungsozialisten gewesen, und sie wird es wieder sein", erklärt er gefasst und mit fester Stimme. "Wir werden uns Utøya zurückholen." Zum Beweis hat er einen Investor mitgebracht, der mehrere Millionen Norwegische Kronen zum Wiederaufbau der Gebäude beisteuern will. Wie die Gebäude aussehen werden, wer dort künftig Freizeiten veranstalten darf, solche Fragen wiegelt Pedersen ab. "Es gibt eine Zeit für alles, und jetzt ist die Zeit zu trauern."

Alltag auf dem Platz

Die Pressekonferenz ist mit einem Flatterband abgegrenzt. Touristen kommen und zücken ihre Fotohandys, angelockt durch die vielen Kameras. Polizei oder Sicherheitsbeamte sind nicht zu sehen. Auf dem Platz selbst ist Alltag eingekehrt: Händler haben ihre Stände mit Obst und Schmuck aufgebaut, Menschen sitzen an den Tischen von Straßencafés. Der Brunnen plätschert, auch er mit Blumen verziert. Die Gebäude um den Youngstorget indes sind von einem alltäglichen Aussehen weit entfernt: Die Autobombe explodierte in unmittelbarer Nähe.

An vielen Gebäuden fehlen Scheiben, zum Teil sind die Öffnungen mit Spanplatten verschlossen. Ein Teil der mächtigen Wanduhr ist herausgeschlagen, aber sie funktioniert. Wer ins Café des Hochhauses will, in dem Arbeiterpartei und ihr Jugendverband sitzen, muss über Scherbenhaufen gehen. Die Jungsozialisten selbst mussten ihre Büros im fünften Stock verlassen und haben in den Räumen der Gewerkschaft schräg gegenüber Zuflucht gefunden.

"Es ist hart", sagt Pedersen knapp auf die Frage, wie er solche öffentlichen Auftritte überhaupt bewältigt. Noch wüssten sie nicht einmal genau, wer getötet wurde. "Ich kenne einige, aber es werden noch viel, viel mehr Nahestehende sein." Die Listen mit den Namen der Opfer werden in diesen Tagen veröffentlicht. Auch Generalsekretärin Tonje Brenna war auf Utøya. Sie ist 23 Jahre alt, hochgewachsen, mit blonden, kurzen Haaren. Sie sah die Pistole, sie sah Breivik, irgendwie hat sie überlebt. Die junge Frau steht auf dem Platz und sagt dem Radioreporter ins Mikrofon: "Der Alltag kommt wieder, unsere politische Arbeit geht weiter."

Inge Aune, die das Grauen ebenfalls miterlebt hat, spricht von der Wärme, die ihnen von so vielen Menschen aus Skandinavien und anderen Ländern entgegenkomme. "Wir glauben daran, dass uns das hilft." Es sind einfache Sätze, die etwas hölzern klingen mögen - doch immerhin stehen diese jungen Menschen da, vor der internationalen Presse, in aller Öffentlichkeit. Die Ereignisse liegen erst vier Tage zurück. Manche versteckten sich hinter Felsen, andere zwischen Leichen, und Dutzende schwammen um ihr Leben. Jetzt versuchen sie, ihre Fassung wiederzufinden.

Den Zeitungen geht der Stoff aus

Es ist ein Balanceakt. Immer sind auch Mitarbeiter in der Nähe, die aufpassen, ob es zu viel wird. Sie fragen vorsorglich nach, ob man nicht lieber zurück ins Gebäude möchte und jemand anders Interviews geben soll. Dem Jungsozialisten-Vorsitzenden steht der Generalsekretär der Arbeiterpartei zur Seite, er übernimmt den englischen Teil der Pressekonferenz. Pedersen selbst appelliert mehrfach an die Presse, keine Telefonnummern auszuspionieren und den traumatisierten Jugendlichen Zeit zu lassen.

Gleichwohl sind die Zeitungen am nächsten Tag wieder voll mit Einzelschicksalen. Langsam geht der einheimischen Presse aber der Stoff aus, doch keiner wagt es, zu einer Art Normalprogramm zurückzukehren. Die Wirtschaftszeitung Dagens Næringsliv schwenkt am Mittwoch auf den ökonomischen Aspekt und berichtet, dass die Preise für Rosen wegen der Nachfrage in Oslo steigen werden.

Das mit den Rosen war eigentlich ein Ersatz für den geplanten Fackelzug, der wegen der Menschenmassen zu gefährlich geworden war. "Rosen sind ein Symbol für Trauer und für die Arbeiterpartei, es schien uns passend", sagt eine Sprecherin von Amnesty International, Mitinitiator des Gedenkzugs. Als die Rosen in den Geschäften ausverkauft waren, griffen die Norweger zu Orchideen und Nelken, Floristen schnitten Topfpflanzen ab. Viele tragen Haarspangen mit aufgesetzten Rosen oder eine Blume im Knopfloch.

Es ist das Maximum an politischer Botschaft, das die Norweger nach außen tragen: Blumen zeigen, Alltag leben. Kaum einer äußert Wut oder Unverständnis darüber, dass die Polizei erst verhältnismäßig spät auf der Insel eintraf. Schon gar niemand denkt laut darüber nach, was es über die Gesellschaft aussagt, wenn einer wie Breivik in ihr aufwachsen und seine kruden Ideen entwickeln konnte. "Er war kein echter Norweger, es war ein einzelner, verrückter Mann", sagt Wencke Sjöberg, eine Frau aus einem Osloer Vorort, die am Montag zur Gedenkfeier in die Innenstadt gekommen ist. Sie spricht für viele.

Keine Schuldzuweisungen

Vorwürfe an die Fortschrittspartei, die mit Rechtspopulismus Stimmen fängt und in deren Jugendorganisation Breivik zeitweise Mitglied war? Fehlanzeige. Norwegen ist ein kleines Land mit nicht einmal fünf Millionen Einwohnern, viele kennen über ein paar Ecken jemanden, der betroffen ist. In der Zeit des ersten Schockzustands kann das Bild vom verrückten Einzeltäter ein Trost sein.

Auch Hadia Tajik hält sich mit politischen Schuldzuweisungen zurück. Allerdings teilt sie nicht das allzu freundliche Auftreten der anderen Jungpolitiker. Eher widerwillig erklärt sie sich zu einem Gespräch bereit. Telefonnummern von anderen Betroffenen werde sie nicht herausgeben, erklärt die 28 Jahre alte Abgeordnete der Arbeiterpartei gleich eingangs, auch Einschätzungen zu rechtsextremen Strömungen im Land seien von ihr nicht zu erhalten. Sie sieht abgespannt aus, streng in dem dunkelblauen Hosenanzug und mit akkurat gescheitelter Frisur.

Tajik hatte die ehemalige Parteivorsitzende Gro Harlem Brundtland am Freitag zu einem Kurzbesuch auf Utøya begleitet. Kurz nachdem die Delegation das Sommerlager verlassen hatte, legte der Attentäter auf der Insel an. "Norwegen ist auch das Land, in dem ich Abgeordnete werden konnte", sagt Hadia Tajik. Ihre Eltern kommen aus Pakistan, sie selbst ist in Norwegen geboren. "Die Diskussion, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, nehme ich zu gegebener Zeit gerne auf."

Eine junge Frau sagt am Rande der Demonstration am Montag, es werde bestimmt wieder alles wie früher. Nur stärker werde es die Menschen machen. Es sind solche Sätze, die in den vergangenen Tagen einen neuen Begriff geprägt haben: Den der "Utøya-Generation", die getragen wird von Menschen wie dem Jungsozialisten-Vorsitzenden Eskil Pedersen. Von ihm kommt auch der Satz, der auf das Blumensymbol zurückgreift: "Er hat einige unserer schönsten Rosen abgeschnitten, aber den Frühling kann er uns nicht nehmen."

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