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Ortstermin von Katharina SchipkowskiAus einer Zeit ohne 99-Cent-Bars

Es ist schummerig im Kaiserkeller, rotes Licht fällt auf die schwarzen Sofas und die dunklen Metallstangen, die hier zur Deko gehören. Normalerweise finden im Keller der Großen Freiheit 36 auf St. Pauli Heavy-Metal- und Gothic-Partys statt. Ob die älteren Herren und Damen, aus denen das Publikum heute besteht, das befremdlich finden? Die meisten sitzen ganz entspannt auf Barhockern und knabbern Gebäck, das in kleinen Schalen auf den Tischen steht. Sie scheinen nicht so leicht zu verunsichern zu sein, sie haben schließlich wilde Zeiten hinter sich.

„Wilde Zeiten“ heißt der Fotoband von Günter Zint, den er am Donnerstagabend vorstellt. Er zeigt Fotografien von damals – aus Brokdorf, aus dem Wendland, aus der Hafenstraße und einem St. Pauli, das nicht aus 99-Cent-Bars und bayerischen Bierdorf-Imitationen bestand. Damals in den 60ern, als die Beatles im Star Club spielten, die Darsteller*innen der Live-Sex-Theater mit aufwendigen Kostümen auftraten und gut verdienten und das Publikum noch Abendgarderobe trug.

„Das ist das ausgebrannte Salambo“, sagt Zint, als der Beamer ein Schwarz-Weiß-Bild an die Wand wirft. Der Fotograf sitzt mit seiner Co-Autorin Tania Kibermanis an einem kleinen Tisch mit Stehlampe auf der Bühne. Er trägt orangefarbenes Hemd und dunkelrote Jacke, die Brille sitzt ihm so weit auf der Nasenspitze, dass man Angst hat, dass sie gleich runterfällt. Kibermanis, blonde Locken, roter Cord-Anzug und 30 Jahre jünger als der 77-jährige Zint, hat die meisten Texte für den Bildband geschrieben, und alles, was Zint geschrieben hat, lektoriert. „Am liebsten hätte Günter gehabt, das jedem Foto drei Seiten Text folgen“, sagt sie. Zint scherzt: „Ich kann zu jedem Foto stundenlang erzählen und wir zeigen ihnen jetzt 20 Fotos, Sie können sich vorstellen, wann Sie hier rauskommen.“ Niemand lacht. Man merkt ein bisschen, dass es Zints 80. Buchveröffentlichung ist. Manche Witze hat er wohl schon häufiger gebracht.

Drei Millionen Fotos soll Zint gemacht haben, in 1.500 Publikationen seien seine Fotos erschienen, 17-mal habe Zint wegen seiner Bilder vor Gericht erscheinen müssen. „Meine Weste ist immer weiß geblieben“, sagt er, „ich habe keinen einzigen Eintrag im Führungszeugnis.“ Hinten im Saal stehen zwei Polizisten in Uniform und schmunzeln, man kennt sich, sie sind privat hier.

Die Zeit vergeht dann doch schnell, weil Zint, so gern er sich auch reden hört, eine Anekdote nach der anderen erzählt und oft da war, wo in Hamburg Geschichte geschrieben wurde. Immer in seiner Doppelrolle als Fotograf und Demonstrant. Seine Fotos zeigen Student*innen, die gegen die Notstandsgesetze protestieren, Autos, die auf dem Fischmarkt das Hausbesetzer-Zeichen darstellen, Jimi Hendrix und John Lennon und wie ein Sarg aus der Herbertstraße getragen wird.

Nach der Präsentation steht Zint noch an den kleinen Tischen herum, signiert Bücher und erzählt einfach weiter. Eine halbe Stunde später ist es gerade mal 20 Uhr und der Raum fast leer. Die meisten sind ja doch etwas betagt.

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