Ortstermin in der Sperrzone in Fukushima: Notquartier mit Spaßbad
Im Atomkatastrophengebiet versuchen die Menschen, mit der Situation und den chaotischen Informationen klarzukommen. Weggehen wollen die wenigsten.
FUKUSHIMA taz | Am Ortseingang von Usuiso stehen verbeulte und zerquetschte Autos, vom Tsunami in Schrott verwandelt. Dann zweistöckige Sozialbauten. Das Wasser hat die Zimmer im Erdgeschoss leer gespült.
Ein paar hundert Meter weiter fressen sich Bagger mit Greifschaufeln durch eine Trümmerwüste. Drei Monate nach dem Beben kommen die Aufräumarbeiten voran. An einigen halb zerstörten Häusern steht der Schriftzug "Kowashite" - bitte abreißen. Dahinter glänzt das Meer im Sonnenlicht.
Wenige Meter vom Strand entfernt türmt sich eine gewaltige Halde aus Brettern, Balken und Bauschutt. Acht, neun Meter hoch. Genauso mächtig war der Tsunami, der die 261 Haushalte von Usuiso dem Erdboden gleichmachte. Von 803 Einwohnern starben 71, 12 werden noch vermisst. Die Schutzmauer war mit sechs Metern zu niedrig, der 3-Tage-Notvorrat an Nahrung und Brennstoff zu klein.
Jürgen Trittin: "Schlimmer als erwartet"
Jürgen Trittin, Fraktionschef der Grünen im deutschen Bundestag, nimmt diese Eindrücke auf. "Trotz der vielen Fernsehbilder – so schlimm habe ich mir das nicht vorgestellt." Als erster deutscher Politiker hat sich Trittin in die Provinz Fukushima aufgemacht, um die Opfer dieser dreifachen Katastrophe aus Beben, Tsunami und Verstrahlung selbst zu hören.
Der Versuch lohnt. Die Menschen sind offen, obwohl hier nur wenige von den deutschen Grünen und ihrem Aufschwung nach Fukushima wissen. Im Rathaus der Stadt Iwaki erzählt Bürgermeister Takao Watanabe von 700 Fischern, die wegen der Radioaktivität nichts mehr fangen dürfen. Von Agrargenossenschaften, die auf das Ernten verzichten, um das Vertrauen der Verbraucher in ihre Produkte nicht zu untergraben. Von den Entschädigungszahlungen des Betreibers Tepco, auf die alle angewiesen sind, wahrscheinlich jahrelang.
Der Bürgermeister berichtet auch vom Chaos bei der Messung der Strahlung, weil die Stadt, der Landkreis und die Zentralregierung jeweils nur für sich messen. Den aktuellen Wert kennt er auswendig: "Wir haben hier 0,23 Mikrosievert pro Stunde, das Rathaus ist mit dem Vierfachen ein Hotspot." Bald soll ein zentrales Raster aus Messpunkten das Durcheinander beenden. Zum Abschied dankt er Trittin dafür, dass er sich so nah an die Atommeiler herangewagt hat. "Wir sind 40 Kilometer entfernt, den Berichten im Ausland zufolge ist das eigentlich eine verbotene Zone." Trittin weiß nicht so recht, ob das ironisch gemeint ist: "Unser Aufenthalt hier ist nur kurz, Sie müssen hier leben", sagt er.
Stillgelegte Freizeitanlage mit Spaßbad
Wenig später trifft er Evakuierte aus der verstrahlten Stadt Hirono. Sie sind in den Zimmern einer stillgelegten Freizeitanlage mit Spaßbad untergebracht. "Wir haben das Gefühl, dass die Regierung uns belogen und betrogen hat", sagt Toshio Koiso. Man sei nicht genug informiert worden. Auch Mutter Mariko Endo meint: "Als die Kernschmelze kürzlich offiziell bestätigt wurde, fühlten wir uns veralbert." Das sei doch wenige Stunden nach dem Tsunami passiert.
Ihre Freundin Fusako Inuzuka ist selbstkritisch: "Tepco hat uns immer gesagt, dass Atomkraft sicher sei. Wir wollten das wohl glauben." An dieser Stelle fühlt sich Trittin ermutigt, vom deutschen Weg zu erzählen. Atomkraft sei nie sicher, Menschen machten Fehler. Die Evakuierten hätten Arbeit, Wohnung und Perspektive verloren. Mit diesen Schicksalen vor Augen müsse man jetzt schneller umsteigen auf andere Energieformen.
Bis Ende August müssen sich die über 300 Atomflüchtlinge eine neue Unterkunft suchen. Für Koiso und seine Familie ist es der neunte Umzug. 27 Evakuierte aus Hirono sind durch den Stress bereits gestorben, die Urnen mit ihrer Asche kommen immer mit. Sie sollen in der Heimaterde bestattet werden, wenn die Atommeiler wieder unter Kontrolle sind. Auch die Mütter wollen in der Präfektur bleiben, wegen der Kinder jedoch weit weg von den Reaktoren. Nur Koiso gibt die Hoffnung auf Rückkehr in seine Stadt nicht auf. "Ich will unbedingt daran glauben", sagt er.
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