Ortstermin Zivildienst: Das unfreiwillige halbe Jahr
Die Koalition will die Zivildienstzeit auf sechs Monate verkürzen. Die Sozialverbände protestieren. Zu Recht? Unsere Autoren begleiten einen Zivi bei der Arbeit.
Ob Cordula Ott* Dienstleistung oder Zuwendung wünscht, erkennt Manuel Lindemann daran, ob der Müll schon vor der Wohnungstür steht. Heute ist Zuwendungstag, kein Müll vor der Tür, der 23-Jährige klingelt. "Moment", hallt es, dann öffnet Cordula Ott die Tür. Sie ist barfuß, atmet schwer unter ihrem Gewicht, über T-Shirt und Shorts trägt sie einen offenen Kittel mit Blumenmuster. "Ich finde, wir geben uns nicht mehr die Hand - wegen der Schweinegrippe", sagt Cordula Ott, geht einen Schritt zurück und setzt sich auf einen Hocker im Eingang ihrer Einraumwohnung.
Die 63-Jährige möchte nicht, dass der Zivildienstleistende, der den Müll runterbringt, ihre Wohnung betritt. Es riecht darin, das weiß sie. Sie sei schon immer unordentlich gewesen, sagt sie. Cordula Ott möchte auch nicht gepflegt werden. Aber manchmal möchte sie reden, 20 Minuten an der Tür. Über neue Angebote im Supermarkt, über die Bekannten, die sich nicht um sie kümmern. An solchen Tagen stellt sie die Mülltüten nicht vor die Tür.
Wie viele? Inzwischen leisten mehr junge Männer Zivil- als Wehrdienst: Im Oktober 2009 gab es laut Bundesamt für den Zivildienst 76.084 Zivildienstleistende in Deutschland - aber nur 38.338 Männer im Grundwehrdienst.
Wie lange? Seit 2004 sind Zivil- und Grundwehrdienst zeitlich gleichgestellt: neun Monate. Davor waren Zivildienstleistende länger im Einsatz. Die Regierung will die Pflichtzeit auf sechs Monate verkürzen.
Warum? Kein Warum mehr. Die Gewissensprüfung für Kriegsdienstverweigerer wurde 1983 abgeschafft.
Wo? Die meisten Zivis werden im Bereich Pflege und Betreuung eingesetzt. Laut Zivildienstgesetz muss jede Zivildienststelle "Arbeitsmarktneutralität" wahren, um keine Arbeitsplätze zu gefährden.
Müll runterbringen, Post holen und Gespräche lassen sich nicht über die Pflegeversicherung abrechnen. Cordula Ott zahlt dafür 7,50 Euro. Die Sozialstation der Arbeiterwohlfahrt in Berlin-Reinickendorf vermietet ihren Zivi stundenweise für Tätigkeiten, die im Pflegesystem nicht vorgesehen sind, aber für viele Patienten zu teuer wären, müssten sie dafür eine normal verdienende und versicherte Pflegeperson bezahlen.
Manuel Lindemann begleitet Menschen zum Arzt, er macht Einkäufe, holt Rezepte ab. Vor einigen Tagen haben seine Vorgesetzten entschieden, dass für ihn kein Nachfolger eingestellt wird, wenn der 23-Jährige im Februar geht. Die AWO-Sozialstation steigt als Zivildienststelle aus.
Über 75.000 Zivildienstleistende wie Manuel Lindemann helfen momentan alten Menschen bei alltäglichen Tätigkeiten und auf Pflegestationen, betreuen Kinder, Behinderte oder Demenzkranke, leisten Fahrdienste oder arbeiten in Umweltprojekten.
Bisher beträgt die Zivildienstzeit so wie der Wehrdienst neun Monate, die neue schwarz-gelbe Regierung will beides ab 2011 auf ein halbes Jahr verkürzen. Es wäre bereits die fünfte Verkürzung seit den 1990er-Jahren, viele sehen sie als den Anfang vom Ende des Zivildienstes.
Seit die Pläne an die Öffentlichkeit gedrungen sind, reißen die Proteste der betroffenen Träger und Sozialverbände nicht mehr ab. Die Vorsitzende des Sozialverbands VdK, Ulrike Mascher, sagte der taz, das "Verhältnis zwischen Anlernzeit und Dienstzeit" stimme nicht mehr. Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, fürchtet, dass Zivildienstleistende künftig "nicht mehr vernünftig eingesetzt" werden können.
In manchen Bereichen dürfte es dann keine Zivis mehr geben, etwa bei der Betreuung behinderter Kinder oder im Kindergarten, weil sie selbst das verkürzte Kindergartenjahr nicht mehr begleiten könnten. Ähnliches gilt für die Notfallrettung. Dort wurden schon nach den letzten Dienstzeitverkürzungen der Einsatz von Zivildienstleistenden reduziert. Träger wie der Malteser Hilfsdienst wollen nun ganz darauf verzichten. In diesem Bereich beträgt die Einarbeitungszeit drei Monate, zu lang für eine Dienstzeit von nur einem halben Jahr. Trotzdem wolle man weiter Zivis beschäftigen, etwa beim Krankentransport, heißt es bei den Maltesern.
Die AWO-Reinickendorf teilt diese Sichtweise. "Man kann die Zivis in so kurzer Zeit nicht einarbeiten. Und dann hat man noch einen riesigen Berg Papierkram mit der Zivildienstbehörde", sagt Alexander Wüsten. Der Pflegedienstleiter der Sozialstation in Berlin-Reinickendorf sitzt an seinem Schreibtisch. Breite Schultern, Glatze, drei Ringe im Ohr, drei Feuerzeuge auf dem Tisch neben dem Aschenbecher mit AWO-Logo.
Wüsten begleitet seit zehn Jahren Zivildienstleistende. "Die Hochzeit ist eigentlich schon vorbei. Viele Einrichtungen haben bereits in der Vergangenheit auf Zivis verzichtet", sagt er. Seine Sozialstation hatte vor fünf Jahren noch vier, bis zum letzten Jahr zwei, jetzt nur noch einen Zivildienstleistenden.
"Klar ist der Zivi ein Lückenbüßer für die vielen Aufgaben, die wir nicht abrechnen können. Aber wir benutzen ihn zumindest nicht als billigen Ersatz für unsere Hauspfleger." Im Gegensatz zu anderen Einrichtungen. "Ich weiß von Pflegeheimen, in denen ganze Stationen auf Zivis beruhen", sagt Wüsten. "Wer sich jetzt beklagt, er müsse vier Arbeitskräfte einstellen, wenn er keine Zivis mehr hat, ist selbst schuld." Dies sei ein falsches Verständnis vom Zivildienst.
An diesem Punkt setzt auch die Kritik von Peter Tobiassen an. Tobiassen ist Geschäftsführer der "Zentralstelle Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen", er selbst ist vor mehr als 30 Jahren über den eigenen Zivildienst auf den Verband aufmerksam geworden. "Wenn eine Organisation klagt, sie müsse ohne Zivis Hauptamtliche einstellen, verrät sie sich", sagt Tobiassen. "Alle müssen unterschreiben, dass Zivis nur als Ergänzung, nicht als Stütze eingesetzt werden."
Auch die Argumente der Trägerorganisationen kann Tobiassen nicht nachvollziehen. "Von den etwa 3,5 Millionen Beschäftigten in Zivildienstberufen sind nur knapp 2 Prozent Zivis", rechnet er vor. "Bei der Verkürzung fällt gerade mal ein halbes Prozent der Stellen weg." Sein Fazit: "Die Kritik ist Schaumschlägerei!" Auch das Argument, dass mit den Zivis auch Zeit für persönliche Gespräche wegfallen könnte, teilt er nicht: "Gerade wenn Zivis keine Pflegetätigkeiten mehr verrichten, wird es mehr Zeit für Spaziergänge und Gespräche geben."
Tatsächlich könnten in den meisten Bereichen die wegfallenden Zivildienststellen durch Jugendliche ersetzt werden, die ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) ableisten. Dafür gibt es zum Teil drei Bewerber auf einen Platz. In dem Bereich, in dem die Zivildienststellen wegfallen werden - bei der Kinderbetreuung - dürfte der Ersatz durch FSJler deswegen kein Problem werden. Die Plätze sind für Jugendliche attraktiv.
Für Peter Tobiassen wäre der Schritt zu einem konsequent geförderten Freiwilligen Sozialen Jahr die richtige Maßnahme. 170 Millionen Euro werden im Etat des Jugend- und Familienministeriums frei, wenn die Zivildienstzeit verkürzt wird. Geld, das seiner Meinung nach in das FSJ investiert werden sollte. "Jede freiwillige Arbeitskraft ist besser als eine erzwungene." Aber: "Es wäre ehrlicher gewesen, den Wehr- und Zivildienst ganz abzuschaffen." Auch der grüne Bundestagsabgeordnete Kai Gehring sieht "immenses Potenzial" beim Freiwilligendienst und bemängelt "ideologisches Festhalten an der Wehrpflicht".
Dass ein Schlussstrich unter den Wehr- und Zivildienst die ehrlichere Lösung gewesen wäre, darin sind sich nicht nur Gehring und Tobiassen einig. Auch Fachleute denken mittlerweile vermehrt in diese Richtung. Werner Hesse vom Paritätischen Wohlfahrtsverband sagte gestern in der taz, dass "größerer Handlungsdruck" entstehen würde, wenn man den Zwangsdienst ganz abschafft. Aber die "billige Unterstützung" durch Zivildienstleistende würde von Politik und Gesellschaft gerne in Anspruch genommen.
"Ich weiß gar nicht, wie ich das machen soll, wenn Sie nicht mehr da sind", sagt Cordula Ott bei der Verabschiedung von Manuel Lindemann. Sie ist schon die Zweite in dieser Woche. Dabei sind Mülldienst und Reden für 7,50 Euro gar nicht gefährdet. Wenn Lindemann wieder in seinen Beruf als Orthopädie-Schuhmacher zurückkehrt, soll ein Freiwilliger im Sozialen Jahr seine Stelle übernehmen. Eine Idee, die viele hätten, sagt Pflegedienstleiter Alexander Wüsten. Schließlich bleibe die Arbeit ja da - und auch die Lücke zwischen möglichem Preis und nötiger Bezahlung. Ein Freiwilliger kostet auch wenig, wie ein Zivi. Aber er ist wenigstens freiwillig da.
* Name geändert
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