Orthodoxes Judentum und Handys: Das koschere Smartphone
Als das Handy aufkam, schafften sich strengreligiöse jüdische Gemeinden eine eigene Version der technischen Neuerung. Und heute?
W er nach den strengen Regeln des religiösen Judentums lebt, isst nur Produkte, die koscher sind. Es gibt eine Vielzahl von Koscher-Zertifikaten. In Israel leben etwa 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ultraorthodox, also strengreligiös. Jede der Strömungen – die ursprünglich osteuropäischen Chassidim, die aus Litauen stammenden Mitnagdim und die sephardischen Jüdinnen und Juden aus Asien und Nordafrika – hat eigene Regeln: für Bekleidung, wen man in der Politik unterstützt und welches Koscher-Zertifikat für Essen zulässig ist.
Nur bei einer Sache haben sich die wichtigsten Rabbiner und ihre Untergruppen zusammengetan: dem koscheren Handy.
Was tun mit dem modernen Ding? 2005 formierte sich ein „rabbinischer Rat für Kommunikation“, der direkt mit israelischen Mobilfunkfirmen verhandelte. Sie wollten Geräte, die den weltlichen Einfluss auf das Notwendigste reduzierten. Die ersten koscheren Handys hatten deshalb nur wenige Funktionen, wie Telefonieren und den Wecker; und eine eigene Vorwahl. Doch mit dem Aufkommen von Smartphones wurde es schwieriger. Das Internet war praktisch, vor allem für jene Teile der Gemeinschaft, die in „weltlichen“ Jobs arbeiteten. Aber dessen Einfluss ist gefährlich für die engverbundene Gemeinschaft.
In Berichten von Menschen, die so aufwuchsen und später die Gemeinschaft verließen, spielt das Internet eine zentrale Rolle. Dort entdecken sie eine Welt außerhalb ihrer unmittelbaren Umgebung. Der US-Amerikaner Shulem Deen beschreibt beispielsweise in seinen Memoiren „All Who Go Do Not Return“, wie er sich in Internetforen austauschte, als er an seinem chassidischen Glauben zu zweifeln begann.
Textnachrichten als Gefahr
Dass das Internet auf den koscheren Smartphones keinen Platz hatte, scheint also logisch. Eine weitere Funktion, die das rabbinische Komitee unterband, war das Schreiben von Textnachrichten. Warum?
Damit hat sich eine qualitative Studie im Fachjournal New Media & Society beschäftigt. Textnachrichten könnten den Zusammenhalt und die Disziplin untergraben – und zwar von innen. Die Menschen leben meist in großen Familien und auf engem Raum zusammen, sind selten allein. Wenn sie telefonieren, hört also meist jemand mit. Aber SMS? Die kann man heimlich schreiben, vielleicht sogar an das andere Geschlecht. Dazu kommt: Über WhatsApp oder SMS können Inhalte schnell an viele Menschen verbreitet werden, also perfekt für Unruhestifterinnen und Unruhestifter.
Wie strengreligiöse Gemeinschaften mitten in hochmodernen Gesellschaften gegen den Einfluss von außen kämpfen und ständig ihre Grenzen verhandeln, erzählt uns etwas über die Mehrheitsgesellschaft. Ihre Ängste sind unsere, auf die Spitze getrieben und überkonsequent behandelt.
Mittlerweile besitzen übrigens viele Ultraorthodoxe zwei Smartphones: ein koscheres und ein normales.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen