Orthodoxe Kirche der Ukraine: „Wenn die Kirche nicht liefert, sind die Menschen enttäuscht“
Der ukrainische Priester Serhiy Dmytriyev fährt oft an die Front, um Trost zu spenden. Die russisch-orthodoxe Kirche vergleicht er mit der Hisbollah.
taz: Serhiy Dmytriyev, Sie sind Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine (PZU). Sie wurde 2019 von dem ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I. von Konstantinopel als eigenständig anerkannt. Was hat Ihre Entscheidung, Priester werden zu wollen, motiviert?
Serhiy Dmytriyev: Ich bin in einer religiösen Familie aufgewachsen. In der Sowjetunion galten religiöse Menschen, aber auch ihre Kinder, als Gegner des kommunistischen Regimes und der Sowjetmacht. Da Priester verhaftet wurden und sich nicht äußern durften, galt Religion als Widerstand gegen das Regime. In der Ukraine wurde Religion daher in den 1990er Jahren von vielen auch als eine Art Kampf für Freiheit und Demokratie wahrgenommen. Natürlich wollte auch ich mich gegen dieses Regime wehren, weil meine Familie darunter gelitten hatte. Priester zu werden bedeutete für mich eine Rückkehr zur Demokratie, zur Unabhängigkeit der Ukraine.
Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.
taz: Religion ist im postsowjetischen Raum von jeher ein Politikum, auch in der Ukraine. Nehmen wir die Russisch-Orthodoxe Kirche (RPZ) …
Dmytriyev: Die RPZ würde ich nicht als politisierte Struktur bezeichnen, sondern als radikale religiöse Organisation, ähnlich der Hisbollah. Die RPZ dient einem autoritären Regime und ist in die Vertuschung von Morden, Korruption und die Vernichtung des Volkes in der Ukraine verwickelt. Sie versucht, Russlands Präsidenten Wladimir Putin heiligzusprechen. Man muss nicht unbedingt selbst abdrücken. Aber wenn man zulässt, dass jemand anderes abdrückt, dann ist das für mich eine religiöse Terrororganisation.
Der heute 50-Jährige wurde in der russischen Stadt Murmansk nördlich des Polarkreises geboren. Seine Eltern stammen aus dem ukrainischen Gebiet Poltawa. 1991 kehrte er in die Ukraine zurück. Nach seiner Ausbildung in Kyjiw wurde er Priester der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats (UPZ KP), die der damalige Metropolit Filaret nach seinem Bruch mit der Russisch-Orthodoxen Kirche 1992 gegründet hatte. Dmytriyev ist nicht nur als Priester, sondern auch als Militärkaplan tätig und häufig an der Front im Osten der Ukraine unterwegs. Er ist Vorstandsvorsitzender der Nichtregierungsorganisation Eleos Ukraine – ein Netzwerk, das zahlreiche Sozialprojekte durchführt, unter anderem für Binnenflüchtlinge.
taz: Es gibt auch die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche unter Moskauer Patriarchat in der Ukraine (UPZ), die 1990 entstand und lange Teil der Russisch-Orthodoxen Kirche war. Aber die UPZ hat sich nach der Vollinvasion 2022 doch von ihrer Mutterkirche losgesagt?
Dmytriyev: Lächerlich. Wir sehen die russischen Pässe der Bischöfe, wir sehen, was in den russisch besetzten Gebieten geschieht, was ihre Priester dort tun. Sie sind absolute Propagandisten der russischen Welt. Wenn wir ein autoritäres Regime wären, wären sie innerhalb von 72 Stunden nicht mehr hier. Wir sind jedoch ein demokratisches Land und versuchen, uns an das Gesetz zu halten. Nennen Sie mir nur eine einzige ukrainische Kirche in den russisch besetzten Gebieten, die die Russen angeblich befreien wollen. Sie werden keine einzige finden, dafür aber festgenommene Priester und geschlossene Kirchen.
taz: Dem ukrainischen Parlament liegt jetzt ein Gesetz vor, das die UPZ verbietet. Was halten Sie davon?Dmytriyev: Sie sollten sagen, wer sie sind: die Russisch-Orthodoxe Kirche. Ich finde es unehrlich, wenn Russ:innen sich als ukrainische Kirche bezeichnen. Und dann sagen sie auch noch, sie würden architektonische Denkmäler befreien, von Ukrainern erbaute Gotteshäuser. Was die Ukrainer erbaut haben, gehört den Ukrainern. Das Wort „Kirche“ bedeutet „Gemeinde“, eine Versammlung von Menschen. Diese Gebäude gehören dem Volk, nicht einem Priester oder einem Patriarchen und schon gar nicht dem Patriarchen von Moskau.
taz: Um das noch einmal klarzustellen: Sollte die UPZ in der Ukraine tätig sein dürfen?
Dmytriyev: Wir sind ein freies Land. Wir können niemandem verbieten, zu glauben oder nicht zu glauben. Die Frage des Glaubens, das ist ein schmaler Grat. Wenn Menschen Putin glauben wollen, sollen sie weiter an Putin und seinen Moskauer Patriarchen Kyrill glauben und zu ihrem Gott beten. Aber diese Kirche sollte nicht die gleiche Vorzugsbehandlung, ich meine Steuerbegünstigungen, wie andere religiöse Organisationen erhalten.
taz: Kritiker*innen des Gesetzes sprechen von einer Einschränkung der Gewissens- und Religionsfreiheit …
Dmytriyev: Ich frage Sie: Wenn ein russischer Priester der Russischen Kirche in der Ukraine Waffen verkauft und spioniert, wird er festgenommen. Ist das eine Verfolgung dieser Kirche? Nein, denn es geht um ein Verbrechen, um Personen, die eine Soutane tragen und behaupten, alle seien vor dem Gesetz gleich, und das sind sie in der Ukraine auch. Dürfen Lügen, das Böse und die Propaganda von Gewalt toleriert werden? Nein. In demokratischen Staaten haben sie kein Recht auf Freiheit, dafür gibt es Gefängnisse.
taz: Haben sich nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion Russlands in der Ukraine mehr Menschen der Kirche zugewandt?
Dmytriyev: Die Ukraine ist traditionell eher ein religiöses Land, aber das bedeutet nicht, dass die Menschen regelmäßig in die Kirche gehen und ihren Glauben praktizieren. Der Krieg kann Gefühle verstärken, aber auch den Glauben eines Menschen zerstören. Heute ist jemand gläubig, morgen ungläubig und wird fragen: „Wozu brauche ich das alles?“ Das ist eine Herausforderung für alle religiösen Organisationen, denn die Menschen erwarten konkrete Taten und Hilfe von der Kirche. Wenn die Kirche nicht liefert, sind die Menschen enttäuscht.
taz: Dennoch bleibt die Frage: Hat sich nach dem 24. Februar 2022 etwas geändert?
Dmytriyev: Ich würde sagen, die Kirche hatte die Gelegenheit, sich zu beweisen. Und viele Priester meiner Kirche tun das. Nicht alle, aber die meisten. Die Menschen nehmen das wahr. Deshalb genießt die Kirche als Institution ein hohes Maß an Vertrauen.
taz: Wie sehen Sie Ihre Rolle als Priester in Zeiten des Krieges?
Dmytriyev: Ein Priester muss die Menschen vereinen. Er muss Trost und Hoffnung spenden, zeigen, dass es sich lohnt zu kämpfen und dass die Wahrheit sich durchsetzen wird. Das stärkt das Gerechtigkeitsempfinden. Und es ist wichtig, richtige Worte des Trostes zu finden, denn wir blicken dem Tod jeden Tag ins Auge.
taz: Finden Sie immer die richtigen Worte?
Dmytriyev: Es ist meine Berufung als Priester, die richtigen Worte zu finden.
taz: Sie fahren oft auch an Front, in die Region Donezk. Sind Sie auch direkt an Kämpfen beteiligt?
Dmytriyev: Kämpfe bestehen doch nicht nur aus Fäusten und Kugeln, sondern auch aus Worten. Wenn wir die Bibel aufschlagen, das Evangelium, das wir zu Ostern lesen, sehen wir, dass am Anfang das Wort stand. Krieg beginnt mit Worten und irgendwann genügen Worte nicht mehr. Dann bricht die Gewalt aus. Deshalb sind Worte so wichtig.
taz: Angesichts des Kriegsgrauens in der Ukraine, fragen sich viele Gläubige, warum Gott das alles zulässt …
Dmytriyev: Es ist nicht Gott, der das zulässt. Gott ist die absolute Liebe, Gott lehrt uns die Liebe. Denn die Menschen sind von Gott als freie Wesen erschaffen. Sie können den Weg der Liebe oder den Weg des Bösen und des Krieges wählen. Die Verbrechen in der Ukraine haben einen Namen, zuallererst den von Wladimir Putin. Es war nicht Gott, der nach Butscha gekommen ist und angefangen hat, Menschen zu vergewaltigen und zu töten. Es waren bestimmte russische Bürger. Ich betrachte sie als Ungläubige, weil ihre Kirche schweigt.
taz: So schweigsam ist der Moskauer Patriarch Kyrill aber nicht, im Gegenteil. Er befeuert diesen Krieg …
Dmytriyev: Man stelle sich vor, Kyrill wäre ein gläubiger Mensch und seine Kirche frei. Da wäre es die Pflicht eines jeden Priesters in Moskau, mit den Gläubigen auf den Roten Platz zu gehen und sich gegen den Krieg auszusprechen. Da kämen eine Million Menschen zusammen. Das ist der Weg eines wahren Hirten. Doch da, wo kein Gott ist und kein Evangelium, erscheint der Teufel in Menschengestalt, um zu töten. Gott verbietet Krieg. Wenn wir heute fragen: „Wo ist Gott?“, dann ist er in den Händen ukrainischer Soldat*innen, die ihre Landsleute beschützen. In den Händen von Freiwilligen, unseren Partnern, die heute hier das Leben verteidigen.
taz: Russlands Krieg gegen die Ukraine dauert schon fast zwölf Jahre. Sind die Menschen nicht schon längst mit ihren Kräften am Ende?
Dmytriyev: Ich sehe da eher eine grenzenlose Motivation. Die Ukrainer*innen sind bereit, für ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit und ihr Land zu kämpfen. Bis der Feind besiegt ist. Egal, wie lange es dauert.
taz: Derzeit laufen sogenannte Friedensverhandlungen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Welche Perspektiven sehen Sie?
Dmytriyev: Alle Imperien sterben, das ist ein historisches Gesetz. Früher oder später wird auch das babylonische Zarenreich Russland untergehen. Die Ukraine ist ein historisches Instrument des Zusammenbruchs dieses totalitären Regimes, das Europa in Angst versetzt und die Demokratie in Europa zerstört.
taz: Sind Sie manchmal von den westlichen Politiker*innen enttäuscht?
Dmytriyev: In Europa fehlt es immer noch an Wissen über die Ukraine. Dabei war sie schon immer Teil der europäischen Kultur und der europäischen Familie. Deshalb hat die Ukraine es auch verdient, dorthin zurückzukehren. Die Frage ist doch, was für ein Land, was für einen Nachbarn sich der Westen wünscht. Ein Land, das bereit ist, für menschliche Werte, für Rechte und Freiheiten zu kämpfen? Oder einen totalitären Staat? „Unsere Großväter haben gekämpft und wir können es wieder tun“, sagen die Russen. Die Ukrainer werden das niemals sagen.
taz: Sie haben zwei erwachsene Kinder. Was wünschen Sie sich für sie?
Dmytriyev: Meine Tochter lebt in Freiburg und studiert an der Hochschule für Musik. Seit vier Jahren hat sie einen deutschen Freund. Vielleicht bleibt sie. Wenn es ihr dort gut geht, ist das doch wunderbar. Mein 27-jähriger Sohn ist Künstler. Derzeit kämpft er an der Front und hebt Schützengräben aus. Er ist ein durch und durch friedlicher Mensch, aber jetzt schläft er mit einem Maschinengewehr neben sich. Er träumt von dem Tag, an dem dieser Krieg endlich aufhört.
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