: Orgasmus auf dem Parkplatz
Vor drei Jahren war Sandrine Kiberlain zu Gast auf der Berlinale. Das war echt too much, fand unser Filmkritiker. Jetzt zeigt das Arsenal sieben Filme mit der französischen Schauspielerin. Eine Hommage ■ von Andreas Becker
Distanz und abgeklärte Coolness sind normalerweise das typische Handwerkszeug des Filmbesprechers. Wenn er sich also plötzlich dermaßen von einem Film getroffen fühlt, dass er für die Darstellerin im Notfall (wenn sie nämlich wie bei Woody Allen aus der Leinwand träte) die eigene Freundin wie einen Hund im Regen vorm Kino stehen lassen würde – dann wird's kritisch. Oder euphorisch.
Der Schock bei der Vorführung von „Haben (oder nicht)“ beim Berlinale-Forum 96 war: Sandrine Kiberlain war zur Filmdiskussion im Kinosaal anwesend. Das war echt too much. Zum Glück wurde beim aufgeregten Betrachten der Schauspielerin wenigstens deutlich, dass es da irgendwo eine Differenz zwischen Kiberlain und dem Mädchen aus der Fischfabrik zu geben schien.
In ihrer ersten Zusammenarbeit mit der Regisseurin Laetitia Masson war die heute 31-Jährige mit den vielen Sommersprossen wie ein Blitz in meine Welt eingeschlagen. Manche hielten sie für eine traurige Giraffe, andere meinten, sie sei so schön spröde, und jemand fand sie „eigentlich gar nicht mal soo hübsch“. Das war sie wohl auch nicht, aber darauf kam es im neuen französischen Kino der jungen Talente Mitte der Neunziger auch nicht an – und bei Kiberlain schon sowieso gar nicht.
In „Haben (oder nicht)“ – „En avoir (ou pas)“ im Original – war Sandrine Kiberlain Alice. Alice lief allein durch Lyon und hatte nichts dabei, müde Typen in Hotelbars anzusprechen. Vielleicht war Alice selbstbewusst, vielleicht hatte sie nichts, aber auch gar nichts zu verlieren: Sein (oder nicht). Lieben (oder nicht). Und der einzige Junge, der für sie für diese Nacht in Frage kommt, hat dann viel zu viel Angst vor ihr.
Gott, wie sehr man in diesem Moment hofft, dieser Kerl möge sich doch endlich ein Herz fassen und diese Frau erhören. Himmel!
Laetitia Masson ist seit „Haben (oder nicht)“ ebenfalls – zum Glück professionell – in Kiberlain verliebt. So kam in diesem Jahr mit „Zu verkaufen“ der zweite Film einer Trilogie bei uns ins Kino. Masson über Kiberlain: „Nach der Beendigung von 'Haben (oder nicht)‘ hatte ich das Gefühl, gerade anzufangen, Fähigkeiten an ihr zu entdecken, von denen sie vielleicht selbst nichts wusste. Ich wollte mit ihr weitergehen.“
In „Zu verkaufen“ spielt („A vendre“) Kiberlain eine junge Frau, die sich einfach zu schnell verliebt: France. Wieder sind es die Männer, die ein Problem bekommen, wenn eine Frau genau das tut, was sie sich in ihren Kumpelgesprächen herbeiwünschen: Begehren formulieren. France nimmt Geld für den Sex: „France liebt alle Männer, denen sie begegnet. Sie könnte mit jedem von ihnen eine wirkliche Affäre haben, aber sie macht sie zunichte, indem sie die Männer zahlen lässt“, erklärt Laetitia Masson, „Sie ist niemals kalt. Sie küsst nie ohne Lust.“
Kiberlain ist inzwischen eine der gefragtesten Schauspielerinnen Frankreichs, heißt es. Sie spielt Theater, und der dritte Film mit Masson soll inzwischen auch in Arbeit sein. Auf die Rolle der Giraffe lässt sie sich nicht beschränken. In „Der Siebte Himmel“ (1997) ist man zunächst entsetzt, wie streng geschäftsfrauisch sie plötzlich wirkt. Sie ist mit einem spießigen Chirurgen (urgh!) verheiratet, hat ein Kind und bewohnt eine gruselig geschmackvolle Riesenbude.
Das ist nicht unsre Sandrine, mögen Sie jetzt denken. Zum Glück wird sie durch Kleptomanie und Ohnmachtsanfälle von dem Beutelschneider weggetrieben, hin zu einem Therapeutenheini, der sie hypnotisiert. Jedenfalls findet Mathilde (Sandrine Kiberlain) langsam richtig Spaß am Sex: endlich nicht mehr nur Orgasmen beim Einparken auf dem Supermarktparkplatz, weil man ohne Mann die Parklücke trifft. Auch für den „Siebten Himmel“ von Benoit Jacquot gilt, was Laetitia Masson über die Schauspielerin Sandrine Kiberlain sagt: „Je mehr sie brennt, desto mehr wird er zu Eis.“
Das Arsenal zeigt jetzt sieben Filme mit Sandrine Kiberlain. Eine Retro für eine so junge Schauspielerin? Nennen wir es lieber eine Hommage. Und für Leute, die Filmbesprechern nicht trauen, ist übrigens Pascal Bonitzers „Rien Sur Robert“ sehr zu empfehlen. Ein junger, sympathisch vor Wut sprühender Autor verreißt darin einen bosnischen Film als faschistische Propaganda. Natürlich ist er ein guter Liebhaber, denkt er – und den Film hat er gar nicht gesehen. Wie Kiberlain – die seine Freundin spielt – hier einer Konkurrentin auf einer Zugfahrt mit gnadenloser Direktheit die Leviten liest, ist noch gar nichts gegen ein Gespräch mit ihrem eifersüchigen Lover in einem Restaurant: „Okay, du willst wissen, wie er mich gefickt hat? Er hat mir von hinten sein Riesenhammerding reingesteckt, mit den Händen meinen Arsch ...“ Der Filmbesprecher wird ohnmächtig.
Die Reihe mit Sandrine-Kiberlain-Filmen ist bis zum 11. November im Kino Arsenal, Welserstraße 25 zu sehen
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