Thüringer Palmen

Ortstermin Ein Gericht in Erfurt verhandelt die Klage eines Gastronomen auf Schmerzensgeld. Der MDR soll ihn zu Unrecht als mögliches Mitglied der Mafia ’Ndrangheta dargestellt haben

Haben sie die Mafia mitgebracht – oder die Mafia sie? Palmen in der Erfurter Innenstadt Foto: Ambros Waibel

aus Erfurt Ambros Waibel

Auf dem Weg vom Hauptbahnhof zum Landgericht bleibt der Blick an wunderschön und kostspielig renovierten Bürgerhäusern hängen. In Toplagen beherbergen sie die ganze Palette des gastronomischen Angebots von Erfurt, von rustikalen Thüringer Wirtshäusern bis zu Restaurants, Ristoranti und Eisdielen. Die Fußgängerzone ist mit Palmen geschmückt.

Wer sich auf dem Weg zu einer Gerichtsverhandlung befindet, bei der es unter anderem darum geht, ob Erfurt eine Art Deutschlandzentrale der italie­nischen Mafiaorganisation’Ndran­gheta ist, könnte bei diesem südlich-pittoresken Flair der Thüringer Landeshauptstadt kurz innehalten und an den sizilianischen Schriftsteller Leonardo Sciascia denken. Der hat einst von der „Linie der Palme“ gesprochen: So wie die Palmen nach Norden wanderten, so wandere die Mafia mit ihnen. Ob diese Linie der Palme im herausgeputzten Erfurt angekommen sein mag?

Im Landgericht erscheint der Kläger deutlich verspätet im Saal. Er ist im Vergleich mit allen anderen Beteiligten auffallend leger gekleidet – und gibt auch sonst den Boss: „Kamera aus“, ist seine herrische Ansage an einen MDR-Mann, der sogleich sein Gerät wegpackt. Die lässig-mediterrane Haltung, mit welcher der vorsitzende Richter Henning Scherf das Wartenlassen kommentiert hatte („na gut, jetzt ist es gerade mal halb“) ist verflogen. Wer wann in einem Gerichtssaal zu filmen hat, wäre natürlich seine Entscheidung – die hat ihm der Kläger schon mal abgenommen.

Anlass der Verhandlung an diesem Morgen des 19. Mai 2017 vor der dritten Zivilkammer des Erfurter Landgerichts ist der MDR-Film „Provinz der Bosse – Mafia in Mitteldeutschland“ von Axel Hemmerling, Ludwig Kendzia und Fabio Ghelli. Der Film dokumentiert mutmaßliche Aktivitäten der aus der süditalienischen Region Ka­la­brien stammenden Mafia-Organisation’Ndran­gheta in Mitteldeutschland, speziell von Clans aus der Mafiahochburg San Luca/Locri. Die Dokumentation war im November 2015 ausgestrahlt worden. Nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Dresden vom August 2016 darf der Film in der Ursprungsfassung nicht mehr gezeigt werden. Im November 2016 legten die Autoren eine Neufassung vor, die unbeanstandet blieb und über die ARD-Mediathek abgerufen werden kann.

Geklagt hatte eben der italienische Gastronom, der auch hier in Erfurt als Kläger auftritt. Der Mann, der zwei Betriebe in Erfurt führt, sagt, er werde zu Unrecht der Mitgliedschaft in der ’Ndrangheta verdächtigt. Und trotz Anonymisierung sei er im MDR-Film identifizierbar. Die sächsischen Richter gaben ihm recht. Wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte fordert der Mann nun zusätzlich ein Schmerzensgeld von insgesamt 50.000 Euro – vom MDR und den drei Autoren des Films.

DIA: Das italienische Antimafia-Kriminalamt wurde 1991 gegründet, auf Betreiben des Richters Giovanni Falcone. Vor 25 Jahren, am 23. Mai 1992, wurde Falcone von der Mafia ermordet.

’Ndrangheta: Im Bericht des DIA 2016 wird die’Ndrangheta als archaische, andererseits hochmoderne, globale kriminelle Organisation bezeichnet, die ihr Geschäftsmodell auch nach Deutschland exportiert habe: Geldwäsche und Kapitalinvestition sowie enger Kontakt zu den kolumbianischen Kartellen und Kontrolle der wichtigsten Häfen zum Kokainimport.

Die Frage nach der Präsenz der italienischen Mafia in Deutschland, aber nicht minder die, wie man die Öffentlichkeit über sie in Kenntnis setzen darf, hatte zuletzt der „Fall Augstein/Reski“ aufgeworfen. Der Gastronom hatte nämlich auch mit einer Klage gegen die Journalistin und Mafia-Expertin Petra Reski Erfolg gehabt. Durch einen am 17. März 2016 in der Wochenzeitung der Freitag erschienenen Artikel, in dem er namentlich erwähnt wurde, sah er seine Persönlichkeitsrechte verletzt. Gegenstand von Reskis Artikel war die erwähnte Klage gegen den MDR.

Reski fühlte sich mit dieser Klage vom Freitag im Stich gelassen. Freitag-Herausgeber Jakob Augstein wehrte sich gegen diesen Vorwurf. Redaktionen seien keine „Rechtsschutzversicherung für mangelhafte Recherche“, sagte er der FAZ. Der Freitag hatte den Artikel im September 2016 gelöscht.

Petra Reski erhielt indes – was Augsteins Verständnis von Journalismus und solidarischem Verhalten angeht – breite Unterstützung in den deutschen Leitmedien. Umso erstaunlicher ist, dass an diesem schwülwarmen Tag in Erfurt sich kein Vertreter eben jener Leitmedien eingefunden hat: Neben der taz begleiten der MDR und ein Kollege der Thüringer Allgemeinen den Prozess. Die Mafia in der Provinz scheint weniger interessant zu sein als Jakob Augstein in Berlin.

Passend dazu zweifelt Richter Scherf in seinem einführenden Statement daran, ob bei einem Regionalsender „die ganz große Öffentlichkeit“ überhaupt gegeben sei, und stellt die Frage in den Raum, wie schwerwiegend die Persönlichkeitsverletzung am Kläger überhaupt gewesen sein könne. Seine Kammer räume der Klage „nicht so die Aussicht auf Erfolg“ ein.

Rechtsanwalt Wolfram K. Werner gibt sich unbeeindruckt, er hat Erfahrung in diesem Bereich. Seine kleine, aber bemerkenswert umtriebige Kanzlei aus Zwenkau bei Leipzig war schon im Jahr 2009 erfolgreich gegen das Buch „Mafialand Deutschland“ des Journalisten Jürgen Roth vorgegangen, den Erfurter Gastronomen vertrat sie von Anfang an.

Die Mafia in der Provinz scheint für deutsche Leitmedien weniger interessant zu sein als Jakob Augstein in Berlin

Werner betont, es habe sich um einen Beitrag zur besten Sendezeit mit einem Millionenpublikum gehandelt, ausgestrahlt von der „zweitgrößten Fernsehanstalt“ in Deutschland – in Wirklichkeit ist der MDR die fünftgrößte ARD-Anstalt. Werner spricht von „Trittbrettfahrern“, die sich an die MDR-Berichterstattung („derart schlechte Recherchen“) rangehängt hätten, und betont, dass man den Prozess „auch weiter führen“ werde, „wenn wir hier verlieren“.

Autor Ludwig Kendzia hält dagegen, dass der MDR-Beitrag seriös sei. „Die Gegenseite weiß“, sagt er, „dass wir bestimmte Quellen nicht preisgeben können.“ Das MDR-Team habe jahrelang in Deutschland und Italien recherchiert. Ursprung ihrer Arbeit sei ein im Internet abrufbarer Artikel von Fabio Ghelli vom November 2013 in der Berliner Zeitunggewesen, in dem die Landnahme der’Ndrangheta speziell in Berlin und Erfurt beschrieben wird – und zwar vom berüchtigten Lokal Da Bruno in Duisburg aus, der Stadt, wo vor zehn Jahren ein Massaker zwischen zwei verfeindeten Clans aus San Luca Deutschland kurzfristig aus dem Tiefschlaf hinsichtlich der Präsenz der’Ndran­gheta riss.

Kendzia betont, die von ihm und den Kollegen dargestellten Sachverhalte beruhten auch auf dem knapp 300 Seiten starken Bericht des Bundeskriminalamts (BKA), „Die Ndrangheta in Deutschland“, aus dem Jahr 2008. Die Existenz dieses Berichts – die von der Gegenseite in vorangegangen Prozessen bestritten worden sei – sei vom BKA ausdrücklich bestätigt und sein Inhalt in Hintergrundgesprächen mit „direkt und unmittelbar“ beteiligten Ermittlern erörtert worden.

Doch als Kendzia die Recherchen beim italienischen Antimafia-Kriminalamt (DIA) in Rom und in Kalabrien darlegt, geschieht etwas Bemerkenswertes. Kendzia nennt den Namen Nicola Gratteri, der seit 2016 die Staatsanwaltschaft im kalabrischen Catanzaro leitet. Gratteri ist eine Ikone der Anti-Mafia-Bewegung, seit 1989 steht der Staatsanwalt unter Personenschutz.

Beim Namen Nicola Gratteris, einer Ikone der Anti-Mafia-Bewegung, schüttelt der Kläger nur verächtlich den Kopf

In Deutschland wurde Gratteri bekannt, weil er die Ermittlungen im Fall des Duisburger Massakers leitete, die 2011 zur von Tumulten begleiteten Verurteilung der Täter im Gericht von Locri führten. „Dass die Mafia ihn töten will, steht außer Frage“, schrieb der Spiegel. Als Kendzia nun Gratteri zitiert, lacht der Kläger, der bis dahin die Verhandlung regungslos verfolgt hat, verächtlich auf und schüttelt einfach nur den Kopf. Auch er stammt aus Locri.

Dass er „richtig wütend“ sei über das, was seiner Ansicht nach der MDR-Beitrag ausgelöst habe, betont der Kläger in seinem abschließenden Statement. Er habe Karriere gemacht in Deutschland, alle Leute würden ihn kennen, er habe nichts zu tun mit den „verrückten Leuten dort unten“ in Kalabrien.

Eine Entscheidung will die Kammer am 30. Juni 2017 um 13 Uhr verkünden – angesichts der „Pressepräsenz“ (Richter Scherf) wieder im Verhandlungssaal anstatt im Hinterzimmer. Wenn das keine Aufforderung an die Leitmedien ist.