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Archiv-Artikel

„Organisiert in Seilschaften“

Der Göttinger Parteienforscher Peter Lösche ordnet die Krise der Hamburger SPD in die Erosion des sozialdemokratischen Milieus ein. Schuld am aktuellen Desaster sind für ihn „klientelistische Strukturen“, die politische Inhalte überlagern

PETER LÖSCHE, 68, ist Professor für Politische Wissenschaften an der Uni Göttingen mit den Schwerpunkten Parteienforschung und US-Politik.

INTERVIEW JAN KAHLCKE

taz: Herr Lösche, was ist aus der einst stolzen Hamburger SPD geworden?

Peter Lösche: Früher, gerade bei der Hamburger SPD, war die große Stärke der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung die Organisation. Heute ist die Partei in Hamburg in einem desolaten organisatorischen Zustand. Ein Grund dafür ist ein Generationswechsel. Mit den heute 30- bis 60-Jährigen fehlt fast eine komplette Generation, die zu den Grünen gegangen ist. Übrig geblieben sind Angehörige verschiedener Mittelschichten, die das gerade in Hamburg manifeste sozialdemokratische Facharbeiter-Milieu abgelöst haben. Diese Restgeneration, die noch in die SPD gegangen ist, ist sehr karriereorientiert.

taz: Führt das dazu, Kandidaten unter der Hand auszukungeln?

Genau so ist es. Diese Generation organisiert sich häufig in Seilschaften, in Gewinn- und Erwerbsgemeinschaften, wie sie in Hamburg erkennbar sind. Denn es geht ja nicht um eine Links-Rechts-Auseinandersetzung, sondern um eine rein personalisierte, karriereorientierte Konfliktsituation.

Offenbart die gegenwärtige personelle Krise auch tiefer liegende inhaltliche Defizite?

Ja. Die historische Sozialdemokratie – die Solidargemeinschaft der gewerkschaftlich organisierten Facharbeiter – hatte eine Vision. Das war: Wirtschaftsdemokratie, mit Mitbestimmung, mit Solidarität. Das ist heute völlig verloren gegangen.

Ein Utopieverlust?

So kann man es nennen. Es gibt zwar die Programmdiskussion, aber das ist diese berühmte Spiegelstrich-Diskussion um 95 verschiedene Politikfelder. Da ist nichts Kohärentes, nichts in sich Schlüssiges, nichts Konzeptionelles erkennbar, das Sozialdemokraten motivieren würde, das nach innen integrieren und nach außen ausstrahlen würde.

Fällt in der Tagespolitik die Abgrenzung gegen von Beusts weich gespülte CDU schwer?

Natürlich. Wenn man nicht weiß, wo man eigentlich hinwill, wenn man keine Realutopie hat, dann fällt es schwer, sich in den Politikfeldern, über die man in der Bürgerschaft redet, von einander abzugrenzen.

Auch das Profil der Kandidaten Stapelfeld und Petersen blieb seltsam unscharf.

Von außen gesehen konnte ich keine Unterschiede entdecken, und offenbar spielte das auch keine Rolle. Da gibt es einfach diese sieben Herzöge, die Kreisvorsitzenden, die sich aber auch nicht inhaltlich differenzierten und dann in der Personenfrage zu unterschiedlichen Optionen kamen, sondern das sind eher klientelistische Strukturen.

Petersen hat ja versucht, politische Positionen zu besetzen – etwa mit seiner Forderung, Sexualstraftäter zu outen.

Es ist leicht durchschaubar, an wen sich solche Forderungen wenden: An den inneren Schweinehund der Sozialdemokratie, um es mit Kurt Schumacher zu sagen. Das ist desavouierender, als wenn es gar nicht erst den Versuch gäbe, Inhalte anzudeuten.

Braucht die SPD jetzt einen offenen Richtungsstreit?

Das würde der Partei gut tun, nicht nur in Hamburg. In der Programmdebatte dürfte es nicht nur um einzelne Spiegelstriche gehen, sondern letztlich um ein Verarbeiten der Agenda 2010. Daran muss man sich reiben und versuchen zu eruieren, was das eigentlich Soziale ist, das die SPD im Unterschied zur CDU und CSU vertritt.

Muss man Ole von Beust schon zur Wiederwahl gratulieren?

Wir reden ja von der ungeheuren Volatilität der Wählerschaft. Und manchmal können auch Wunder geschehen. Ich würde deshalb noch nicht gratulieren.