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Oppositionelle über die Lage in Tunesien"Die EU ist Komplize des Regimes"

Beim Volksaufstand in Tunesien geht es nicht allein um die wirtschaftliche Lage. Sondern ebenso um Bürgerrechte und Würde, sagt die tunesische Oppositionelle Sihem Bensedrine.

Gewaltausbruch in Tunesien: Aufstand von Jugendlichen in Sidi Bouzid. Bild: ap/dapd
Reiner Wandler
Interview von Reiner Wandler

taz: Frau Bensedrine, Tunesien galt als das ruhigste und modernste Land Nordafrikas. Woher kommt plötzlich diese Wut der jungen Leute?

Sihem Bensedrine: Wir Menschen- und Bürgerrechtler warnen seit Jahren davor, dass die repressive Politik von Präsident Zine El Abidine Ben Ali zu einem solchen Gewaltausbruch führen wird. Leider hat uns niemand zugehört. In Tunesien haben nicht nur die jungen Menschen keinerlei Rechte, sondern die Bürger im Allgemeinen. Alle Versuche, das Land so darzustellen, dass alles hervorragend läuft, sind nichts als Marketing. Die Revolte hat dem Regime diese Maske heruntergerissen.

Wie konnte das Regime dieses Bild so lange aufrechterhalten?

SIHEM BENSEDRINE

58, Journalistin und Sprecherin des Nationalen Rats für Freiheit in Tunesien (CNLT), ist eine der bekanntesten Oppositionellen Tunesiens. 2001 wurde sie nach Publikationen über Korruption und Folter inhaftiert. Mehrfach wurde ihr Büro durchsucht.

Schließlich wurde sie von maskierten Männern überfallen und zusammengeschlagen. Um der Repression zu entgehen, lebt sie seit einigen Jahren in Europa, derzeit in Barcelona. Sie organisiert das Internetradio www.kalima-tunisie.info.

Alle Welt starrt gebannt auf Nordafrika und sieht dabei nur die Gefahr des Terrorismus. Das tunesische Regime hat diese Ängste genutzt und völlig übertrieben, um damit die repressive Politik zu begründen und Unterstützung dafür zu bekommen. Ben Ali hat alle sogenannten Antiterrorgesetze dazu benutzt, jedwede Freiheit zu beschneiden.

Es entsteht der Eindruck, dass Ben Ali die relative Ruhe und Stabilität mit einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik erreicht hat und nun in der internationalen Wirtschaftskrise die Unruhen ausbrechen.

Es sind nicht nur die wirtschaftliche und die soziale Lage, die zur Revolte geführt haben. Der junge Arbeitslose, der sich am 17. Dezember in Sidi Bouzid mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt hat, hat dies nicht wegen seiner wirtschaftlichen Notlage getan, sondern weil sein Wagen, mit dem er Gemüse verkaufte, immer wieder beschlagnahmt und er immer wieder auf der Polizeiwache misshandelt wurde. Die Beamten erpressten Geld von ihm. Es ist ein Summe von Frustrationen, die die junge Menschen bewegt. Die Revolte ist ein Ausdruck des Frusts über die soziale Ungerechtigkeit. Aber es geht auch darum, die eigene Würde zurückzuerobern.

Ist das der Anfang vom Ende des Ben-Ali-Regimes?

Ich bin mir sicher, dass Ben Ali diese Revolte nicht übersteht.

Wer könnte in diesem Fall seinen Platz einnehmen?

Genau das ist das Problem. Es gibt keine organisierte politische Opposition. Das Regime hat alle friedlichen Alternativen systematisch zunichtegemacht, angefangen bei den demokratischen Parteien bis hin zu den politischen Islamisten. Europa hat dabei zugeschaut. Ich weiß nicht, wer die Rolle einer Führungskraft übernehmen könnte.

Irgendwie muss die Unzufriedenheit doch in politische Bahnen gelenkt werden.

Es handelt sich um einen Volksaufstand. Die Menschen wollen dieses Regime nicht mehr. Die einzige Kraft, die derzeit in Tunesien funktioniert, ist die Gewerkschaftszentrale UGTT. Sie hat sich öffentlich hinter die Demonstrationen gestellt und verlangt, dass Polizei und Armee abgezogen werden. Viele Demonstrationen treffen sich an den örtlichen Gewerkschaftshäusern. Die Gewerkschaft hat den Dialog mit dem Ministerpräsidenten abgebrochen, weil er sich geweigert hat, über die Unruhen und das gewaltsame Vorgehen der Polizei und der Armee zu reden.

Gibt es innerhalb der Regierungspartei RCD Kräfte, die willens sind, sich an einem friedlichen Übergang zu einem demokratischen Tunesien zu beteiligen?

Es gibt eine starke Strömung, die mit der Vorgehen Ben Alis nicht einverstanden ist. Ob und was sie vorbereiten, weiß ich allerdings nicht. Das könnte eine Alternative sein, wäre aber sicher wünschenswert.

Wenn ich Sie richtig verstehe, machen Sie Europa für das, was in Tunesien passiert, mitverantwortlich.

Die Europäische Union ist ganz direkt verantwortlich für das, was in Nordafrika geschieht. Die EU stellte sich blind und taub angesichts der Berichte aus Tunesien. Es gibt in Tunesien kein Wirtschaftswunder und auch kein soziales Wunder, wie immer wieder behauptet wird. Es gibt überhaupt kein Wunder. Die Massaker der letzten zwei Tage begannen, einen Tag nachdem der tunesische Außenminister in Frankreich zu Besuch war. Das ist sicher kein Zufall.

Sie glauben, dass Frankreich dieses Vorgehen gebilligt hat?

Die Tatsachen sprechen für sich. Frankreich hat die Diktatur Ben Alis von Anfang an unterstützt. Die Spezialeinheiten rückten am Tag nach dem Frankreichbesuch aus. Es gibt mehr als 50 Tote, und die internationale Gemeinschaft reagiert nicht. Egal ob in Birma oder sonst wo, die EU protestiert immer. Und jetzt bei Tunesien, das eineinhalb Flugstunden von Paris entfernt ist, schweigt Europa. Die EU ist damit Komplize dieses kriminellen Regimes.

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6 Kommentare

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  • T
    Tunesier

    Was soll der Islam bitte damit zu tun haben?

    Das Regime ist unislamisch und die Protestbewegung ist es auch.

    Außerdem kannst du nicht alle arabischen Länder in einen Topf werfen, einmal umrühren und dann den Durchschnitt draus ziehen. Dazu sind sie von der Kultur und der Gesellschaftlichenentwicklung viel zu verschieden.

    Die Aufstände in Tunesien begannen durch Akademiker und angehende Akademiker. Ich verstehe wirklich nicht wie der Islam auch nur irgendwie etwas mit irgend einer der momentan relevanten Parteien zu tun haben sollte.

    Klar als Tunesier sind sie Muslime, aber das Handeln derer die momentan handeln (egal auf welcher Seite) wird nicht davon bestimmt oder geleitet.

  • F
    Faisal

    @Anika

    Was hat der Islam damit zu tun?Hört auf mit so ein Quatsch das ist unsere LAND wir kömmen uns um unsere Probleme und ihr solltet euch um euren Dreck kömmen!

  • 1
    1-Gaou

    @flipper - nicht nur in Tunesien mischt Frankreich mit, wenn's ums morden geht! Schau dir mal etwas genauer die Situation in der Elfenbeinküste an! Allerdings kann ich da die Berichterstattung der Taz nicht empfehlen, sie ist auf dem Neo-Kolonialauge Frankreichs - was die Elfenbeinküste - anbelangt blind!

  • F
    Flipper

    Und immer wieder scheint Frankreich mitzumischen, wenn es im Mahgreb ans Morden geht, es gibt sogar Berichte, dass der franz. Geheimdienst beim Anfachen des algerischen Gemetzels in den 90ern zumindest zeitweise mit dem algerischen gemeinsame Sache machte.

  • P
    Peter

    Es gibt eine Softwaresammlung mit der Tunesier sicher im Internet surfen und sich Informationen beschaffen können:

     

    http://pastebin.com/VZKwiP5K

     

    und als merkzettel gibt es dieses bild:

     

    http://image.bayimg.com/dadmbaadb.jpg

  • A
    Anika

    Die arabische Welt ist in einem unaufhörlichen Mittelalter-Loop gefangen, zu diesem Ergebnis ist der UN-Bericht zur Arab Human Development gekommen, siehe:

     

    http://www.arab-hdr.org/

     

    1)Die Anzahl der Wissenschaftler und Ingenieure, die in der Forschung und Entwicklung arbeiten, liegt in den 22 arabischen Ländern bei 371 aus einer Million Menschen. Die weltweite Rate beträgt demgegenüber 979.

     

    2)Die öffentlichen Ausgaben für Bildung und Erziehung in den arabischen Ländern sinken seit 1985; die Zahl derer, die höhere Schulen und Universitäten besuchen, ging ebenfalls zurück. An der hohen Analphabetenrate unter Frauen hat sich in den letzten Jahren nichts geändert.

     

    3)Versorgung mit Medien: weniger als 53 Zeitungen pro 1000 Arabern; der globale Durchschnitt liegt bei 285 in den entwickelten Ländern. Nur 1,6 % der Bevölkerung in den arabischen Staaten verfügen über einen Internet-Zugang.

     

    4)Die Produktion literarischer und künstlerischer Bücher lag 1996 bei 1.945 Büchern und repräsentiert damit 0,8 Prozent der Weltbevölkerung. Religiöse Bücher dagegen halten 17% des weltweiten Anteils.

     

     

    Solange der Koran das Leben und Wirken der arabischen Welt bestimmt, solange bleibt sie auch in diesem Loop gefangen. Araber müssen endlich die Ketten des Islams abwerfen.