Opposition in der Türkei: Erdoğan stellt Istanbuler CHP-Spitze kalt
Von einem türkischen Gericht wurde der Vorstand der Istanbuler sozialdemokratisch-kemalistischen CHP des Amtes enthoben. Ein Erfolgloser soll übernehmen.

Angeblich sollen Çelik, der Vorstand und weitere insgesamt 196 Delegierte bei dem letzten Parteitag am 8. Oktober 2023 durch Bestechung und Stimmenkauf gewählt worden sein. Das Gericht bestellte den bis dahin amtierenden Vorstand mit dem Vorsitzenden Gürsel Tekin vorläufig wieder ins Amt. Gegen den Willen seiner Partei hat Tekin die Anordnung des Gerichts angenommen.
Die CHP Istanbul will ihn nun aus der Partei ausschließen und der amtierende Vorstand hält das Parteigebäude in Istanbul besetzt. Da Verfassungsjuristen und die wichtigsten Anwaltskammern des Landes sagen, dass ein Bezirksgericht gar nicht zuständig sei, über die Legalität von Parteiwahlen zu entscheiden, sondern dafür exklusiv der Hohe Wahlrat zuständig ist, will die CHP nun auch juristisch gegen das Urteil vorgehen.
Die Amtsenthebung des Istanbuler Vorstandes ist Teil eines umfassenden Plans der Regierung, die Führung der CHP auszuschalten. Bis zur Wiederwahl Erdoğans im Mai 2023 wurde die CHP jahrelang von Kemal Kılıçdaroğlu und einer Riege von Bezirksfürsten um ihn herum geführt. Das prägnanteste Merkmal dieser Parteiführung war ihre Erfolglosigkeit.
Erfolge unter dem inhaftierten İmamoğlu
Seit Erdoğan vor mehr als 20 Jahren an die Macht kam, hat Kılıçdaroğlu die CHP in etliche Niederlagen geführt. Einzige Ausnahme war die Wahl Ekrem İmamoğlus in Istanbul. Die letzte Tat Kılıçdaroğlus war es denn auch, Iİmamoğlu als Präsidentschaftskandidaten 2023 zu verhindern und selbst anzutreten.
Seit seiner Abwahl, ebenfalls im Oktober 2023, ging die Partei unter der Führung von Özgür Özel und İmamoğlu auf Erfolgskurs. Bei den Kommunalwahlen 2024 hängte sie Erdoğans AKP deutlich ab und gewann fast alle wichtigen Rathäuser des Landes. Diese Entwicklung lässt Erdoğan nun mithilfe einer willfährigen Justiz zurückdrehen.
Ekrem İmamoğlu wurde im März verhaftet, weitere 14 Bürgermeister der CHP wurden ihres Amtes enthoben und ins Gefängnis gesteckt, dazu hunderte Angestellte der betroffenen Kommunen. Außerdem setzt die AKP weitere CHP-Bürgermeister unter Druck, die Partei zu wechseln, was in einigen wenigen Fällen erfolgreich war.
Die dritte Schiene ist, die entscheidenden Parteikongresse der CHP, bei denen Kılıçdaroğlu und seine Anhänger abgewählt wurden, per Gericht für ungültig erklären zu lassen, weil angeblich Stimmen gekauft wurden. Der zentrale Angriffspunkt der Regierung ist Parteichef Özgür Özel, der seit der Verhaftung von İmamoğlu sehr engagiert und erfolgreich den Widerstand gegen die Repression organisiert.
CHP-Vorsitzender von Erdoğans Gnaden
Die Gerichtsentscheidung in Istanbul ist ein Vorspiel für die Gesamtpartei. Bei einem genau gleichen Verfahren wie jetzt in Istanbul soll die Wahl Özgür Özels und des neuen Parteivorstandes der CHP für ungültig erklärt werden und anschließend der notorisch erfolglose Kemal Kılıçdaroğlu wieder ins Amt gehievt werden. Der nächste Termin in diesem Schauprozess in Ankara ist der 15. September.
Obwohl die gesamte Partei, einschließlich einer ganzen Riege ehemaliger Vorsitzender, auf Kılıçdaroğlu eingeredet haben, um ihn dazu zu bringen, bei dem durchsichtigen Manöver der Regierung nicht mitzumachen, bekundet er immer wieder, er stehe bereit, wieder als Vorsitzender zu amtieren.
Ein Kemal Kılıçdaroğlu als CHP-Vorsitzender von Erdoğans Gnaden würde die Partei zunächst komplett lahmlegen. Ziel Erdoğans ist es, die Opposition mindestens vorläufig auszuschalten, um eine neue Verfassung durchzusetzen, die ihm eine lebenslange Präsidentschaft ermöglichen würde.
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