Opfer des Terroranschlags von Bombay: Der Wunsch, zu handeln
Für Nazifah Qureishi ist nichts mehr wie vor dem Anschlag: Sie verlor ihre Tochter und wurde angeschossen. Die Stimmung in Bombay ist besonnen: Man ist der religiösen Gewalt überdrüssig.
Es ist heiß. Es stinkt. Und draußen ist es laut. Nafizah Qureishi liegt in ihrer Slumhütte. Die ist zwei mal drei Meter groß und steht zwei Meter neben einem kaum befahrenen Gleis am Bahnhof von Bandra, einem Slumviertel von Bombay. Immerhin hat die fensterlose Hütte einen Betonboden und elektrischen Strom. So gibt es einen Fernseher und unter der Decke einen Ventilator, der Besucher fast köpft. Die 24-jährige Qureishi liegt hier seit vier Wochen mit einem Gipsfuß, versorgt von ihrem Mann und ihrer Mutter. Zuvor lag sie im Krankenhaus, und zwar seit dem 26. November 2008.
An diesem Tag befand sich Qureishi im Chhatrapati Shivaji Terminus, Bombays Hauptbahnhof. Damals tötete ein vermutlich zehnköpfiges islamistisches Terrorkommando in 60 Stunden an mehreren Orten im Zentrum der Stadt, darunter zwei Luxushotels, eine jüdische Herberge, ein Krankenhaus und eine Touristenkneipe, rund 170 Menschen. Die Attentäter - bis auf einen - starben im Lauf der Kämpfe.
"Wir wollten zu meiner Schwägerin aufs Land, doch wir hatten den Zug verpasst", berichtet Qureishi. "Mein Mann ging Essen kaufen. Ich wartete mit unserer Tochter in der Halle vor den Ferngleisen. Plötzlich hörten wir Geknalle, ich dachte erst an Feuerwerk. Doch da flogen schon Kugeln um uns herum. Die Schüsse kamen direkt von der Seite, wo wir saßen. Afreen bekam eine Kugel in den Rücken und war sofort tot, ich wurde zweimal in den Fuß getroffen. Jeder versuchte zu fliehen, es herrschte Chaos." Später wurde sie von Unbekannten geborgen. Qureishis Mann Sadef hat unter Lebensgefahr die Tochter geholt. Doch die war, was er nicht wusste, bereits tot. Die Sechsjährige war einer von 57 Menschen, die im Hauptbahnhof starben. Qureshi zählt zu den 97 Verletzten, die überlebt haben.
Terrorismus kannte Qureshi bis dahin nur aus dem Fernsehen. "Ich habe nie gedacht, dass mir so etwas zustoßen kann", sagt die junge Frau. "Ich weiß nicht, ob ich je wieder beschwerdefrei gehen kann. Das kann der Arzt erst sagen, wenn der Gips ab ist." Im Krankenhaus hat sie erfahren, dass sie wieder schwanger ist.
Qureshi wirkt insgesamt erstaunlich gefasst und ist auch voll des Lobes: "Alle haben mich gut behandelt." Die teuren Krankenhauskosten hat die Regierung übernommen, außerdem erhielt Qureishi eine Entschädigung von umgerechnet 3.000 Euro für den Tod der Tochter. Der indische Konzern Tata, dem auch das angegriffene Luxushotel Taj Mahal gehört, zahlt Qureishi monatlich 5.000 Rupien, rund 83 Euro. Und ein anderer indischer Konzern hat ihr einen Job versprochen. "Niemand hat mich schlecht behandelt, weil ich Muslimin bin", sagt sie - wohl wissend, dass es in Bombay nicht immer so war.
Keine fünfhundert Meter von Qureishis Hütte entfernt liegt das Viertel Behram Pada. Die Hütten des Slums wurden im Dezember 1992 und Januar 1993 von fanatischen Hindus in Brand gesteckt. Damals starben in Bombay rund 900 Menschen, überwiegend Muslime. "Mein Haus ist damals abgebrannt", erinnert sich Sheikh Riazuddin. "Hindus warfen mit Steinen, doch dann kam die Polizei und schoss auf uns, sogar eine Handgranate wurde geworfen."
"Während der Terrorattacke im November wurden hier wieder Muslime festgenommen", berichtet der 42-jährige Riazuddin. "Immer wenn es in Bombay knallt, werden wir Muslime als Erste verdächtigt. Zum Glück haben sie einen Terroristen aus Pakistan lebendig gefasst. So mussten sie die hiesigen Muslime bald wieder freilassen."
Es war schnell klar, dass das Terrorkommando aus Pakistan stammte, erklären viele Befragte. Überdurchschnittlich viele Muslime waren unter den Opfern. Und wie schon bei den Bombenanschlägen auf Bombays Nahverkehrszüge am 11. Juli 2006, bei denen es 200 Todesopfer gab und die Indiens Regierung - wie die Anschläge vom November - der pakistanischen Terrorgruppe Lashkar-e-Taiba zuschreibt, hätten Bombays Muslime schnell den Opfern beigestanden und sich eindeutig vom Terror distanziert.
"Nach dem 26. November gab es in Bombay keine religiös motivierten Unruhen", bestätigt der angesehene islamische Intellektuelle Asgar Ali Engineer vom Zentrum für gesellschaftliche und säkulare Studien (CSSS) in Bombay. "Die Stimmung war nicht danach. Niemand hat Indiens Muslime für die Angriffe verantwortlich gemacht", sagt Engineer, "vielmehr haben alle auf Pakistan gezeigt."
Die Menschen in Bombay sind der religiösen Gewalt überdrüssig, erklärt die Menschenrechtsaktivistin Teesta Setalvad bei einem Treffen in dem kleinen Büro ihrer Organisation Bürger für Gerechtigkeit und Frieden. Dort drängen sich Freiwillige aus der Mittelschicht. Laut Setalvad ist selbst gegenüber Pakistan der Tenor differenziert geblieben. "Wir wollen Gerechtigkeit, aber keine Rache", sagt sie. Der Regierung in Delhi bescheinigt sie einen insgesamt weisen Umgang mit Islamabad. "Sie hat sich nicht zu hysterischen Reaktionen hinreißen lassen." Wären Hindu-Nationalisten an der Regierung, hätte es schlimmer kommen können, meint Setalvad.
Sie stellt außerdem seit dem Terror von November einen Wandel in der Mittelschicht fest: "Erstmals ist nach einer Katastrophe bei Teilen der Gesellschaft, die sonst nie gewählt haben, sondern nur das Leben genossen und von der Gemeinschaft profitiert haben, der Wunsch entstanden, etwas zu tun", berichtet sie. "Die Menschen wissen, dass der Terror aus Pakistan kam, aber seine Wirkung durch Versäumnisse hier verstärkt wurde. Denn wir haben unsere Hausaufgaben nicht gemacht und machten uns so selbst zum Terrorziel."
Laut Setalvad sind in Reaktion auf die November-Anschläge 800 neue Initiativen in Bombay entstanden. Sie selbst gründete mit Vertretern von Organisationen, mit Ärzten und Psychiatern, Stiftungen, der Stadtverwaltung und Universitäten ein Bündnis. Unter www.mumbaivoices.com sammeln sie seit Kurzem Zeugenaussagen zu den Anschlägen im Netz. So wollen sie Versäumnisse in der Reaktion von Behörden, Polizei, Feuerwehr und Medien dokumentieren.
"Korruption macht uns für Terrorakte anfällig", sagt Setalvad. Solange die Korruption nicht beseitigt sei, könne es wieder Anschläge geben. Als Beispiel nennt sie den Plastiksprengstoff RDX, den in Indien nur die Armee besitzen darf. "Wenn dieser bei Anschlägen zum Einsatz kommt, muss er aus Armeebeständen stammen," so Setalvad.
Setalvad weiß, dass Veränderungen Zeit und Geduld brauchen. Mit ihrer eigenen Bürgerrechtsgruppe kann sie schnell agieren, doch Kooperationen wie mit der Stadtverwaltung sind für Mumbai Voices mühsam. Die Aktivistin räumt ein, dass nicht zuletzt wegen des globalen Medieninteresses, das allerdings fast ausschließlich den zwei Luxushotels und den dortigen Ausländern und reichen Indern galt, die Behörden besser reagiert hätten als bei früheren Terrorakten.
Der muslimische Intellektuelle Engineer vom CSSS fordert, die Regierung müsse religiöse Gewalt grundsätzlich viel konsequenter unterbinden. Denn als Rechtfertigung für ihre Taten hätten die Terroristen etwa die Pogrome gegen Muslime im indischen Gujarat 2002 mit mehr als tausend Toten angeführt. Die Regierung habe nach dem 26. November die Sicherheitsgesetze verschärft. Doch Terrorismus ist für Engeneer ein politisches Problem: "Ohne die religiöse Gewalt und Korruption gäbe es in Indien keinen Terrorismus." Auch das Kaschmirproblem müsse deshalb endlich gelöst werden.
Seit November aktiv ist auch Lalita Tiwari. Die 25-Jährige, die als PR-Frau bei einer Bank arbeitet, steht bei einem Straßenfest im Zentrum vor einem großen, paketartigen Gestell. "Indien-Pakistan: Zerbrechlich" und "Nicht stürzen" steht darauf. Hier sammelt Tiwari für die Aktionsgruppe Fight-Back Postkarten an Pakistan. Passanten werden aufgefordert, dem Nachbarland eine Karte zu schreiben und sie auf das Gestell zu kleben.
Wer hinter Fight-Back Kriegstreiber vermutet, irrt. Die Gruppe gründete sich 2007 als Reaktion auf Gewalt gegen Frauen und versucht mit Aktionen Bewusstsein zu schaffen. Jetzt verschafft sie der Bevölkerung zum Thema Terrorismus Gehör. "Hindus, Muslime: gleicher Ursprung, gleiche Kultur. Lasst uns Brüder und Schwestern sein", steht auf einer Karte. Tiwari sagt, die meisten Karten drückten den Wunsch nach Frieden aus: "Gegen Terror sind fast alle, aber nur wenige gegen Pakistan."
Für Postkarten hat der Bankkaufmann Sanjay Kumar keine Zeit, als er wie jeden Abend spät mit dem vollen Vorortzug von seiner Arbeit an den Stadtrand zurückfährt. "Wir hatten damals alle Angst. Dennoch sind wir sofort wieder zur Normalität zurückgekehrt. Terror ist für uns nicht neu. Das Leben geht weiter. 2006 wurde auf diese Zuglinie ein Anschlag verübt. Als die Züge wieder fuhren, waren sie so voll wie vorher. Was sollen wir auch machen?"
Am Chhatrapati Shivaji Terminus, wo Nafizah Qureishi ihre Tochter verloren hat und selbst angeschossen wurde, herrscht längst wieder geschäftiges Treiben. An die Toten des 26. November erinnert ein Gedenkstein. An einigen Stellen in der Halle, die wieder unkontrolliert betreten werden kann, sind Sandsäcke aufgetürmt. Dahinter lehnt ein gelangweilter Soldat mit Helm und Maschinengewehr.
Bewacht wird auch das Café Leopold, in dem bei den Anschlägen mehrere Touristen starben. Vor dem im Januar wiedereröffneten Lokal, das abends proppenvoll ist, steht ein einsamer Wachmann. Er hat eine lange, doppelläufige Flinte, die aus einem Western stammen könnte. Touristen zeigt er Einschusslöcher in der Tür.
"So ein Terroranschlag kann wieder passieren. Die Stadt ist offen, da kann jeder unkontrolliert hereinkommen", sagt die in ihrer Hütte liegende Qureishi. "Die Terroristen töten unschuldige Menschen." Von Rache hält sie dennoch nichts. "Wenn man die Terroristen tötet, gibt es für jeden zehn neue." Zum Glück seien die acht Kilo Plastiksprengstoff nicht explodiert, die später im Bahnhof gefunden wurden: "Sonst wäre ich wohl auch tot."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich