Opern-Wiederentdeckung: Großer Wurf auf kleiner Bühne

Das Theater Osnabrück hat Albéric Magnards 120 Jahre alten Dreiakter „Guercœur“ inszeniert. Die Oper ist heute noch aktuell.

Viele Menschen in pinken Kostümen halten Schilder hoch, auf denen der Name des Tyrannen Heurtral steht

Erinnert an Wahlkampfparties von Donald Trump: Fans des Tyrannen Heurtal jubeln Foto: Jörg Landsberg

OSNABRÜCK taz | Es ist der Abend der starken Bilder: Die schwarze Bühne, auf der nur einzelne Gesichter zu sehen sind, fast den ganzen ersten Akt hindurch, und am Ende, als dem toten Guercœur im Himmel das Leben zurückgegeben wird, bildet sich ein riesiger Kopf aus Licht, durchbohrt uns mit leerem Blick. Die blutige Reanimations-Szene, in der der wiedergeborene Guercœur zum zweiten Mal stirbt, getötet von seinen eigenen Anhängern, die von Kämpfern für die Demokratie zu Kämpfern für die Diktatur geworden sind: Ein Rettungsassistenten-Team legt eine Infusion, gibt Defibrillator-Schocks, setzt Spritzen.

Es ist der Abend der gesanglichen Brillanz: Bariton Rhys Jenkins, als Guercœur, bewältigt seine große Rolle mit Kraft und Präzision. Sopranistin Lina Liu, als Himmelswesen Vérité, legt in ihren Hoffnungsmonolog, in ihre Vision einer gerechteren, friedvolleren Welt, so viel Leidenschaft, dass dieser hochemotionale Verheißungs- und Sehnsuchtsmoment des dritten Akts der Höhepunkt der über drei Stunden ist, die Albéric Magnards Oper „Guercœur“ in Osnabrück dauert.

Es ist der Abend der Symbole: Die drei gewaltigen Kreise aus schwebendem Licht, die sich futuristisch auf das Geschehen herabsenken, stehen für die Unendlichkeit. Der rote Handschuh, den Nana Dzidziguri als Himmelswesen Souffrance trägt, steht für die Wunden, die Guercœur empfangen wird, der ja nur deshalb auf die Erde zurückdarf, weil er noch nicht gelernt hat, was Schmerz und Demut bedeuten.

Es ist der Abend der inszenatorischen Strenge: Regisseur Dirk Schmeding setzt so konsequent auf reduzierte Gestik und Mimik, auf kurze, höchst bewusst zurückgelegte, überhöht langsame Wege seiner Darsteller, dass es fast nicht auffällt, dass er Sänger dirigiert und keine Schauspieler.

Abend der leeren Räume

Es ist der Abend der leeren Räume: Martina Segna dampft ihr Bühnenbild auf das absolute Minimum ein. Da ist das Grab, dem Guercœur entsteigt. Da ist das Bett, in dem Guercœurs Frau Giselle mit Guercœurs Nachfolger Heurtal Sex hat, Machtmissbrauch plant, Champa­gner trinkt. Da ist der Konferenzraum, in dem Guercœur seinen zweiten Tod erleidet. Da ist der weiße Sarg, in dem Guercœur verbrannt wird.

Es ist der Abend der politischen Agitation: Um zu zeigen, wie viel Aktualität Magnards Anti-Totalitarismus-Oper noch heute hat, collagiert Videokünstler Roman Kuskowski Ku-Klux-Klan-Aufmärsche aus den USA und Neonazi-Krawalle aus Deutschland. Und Heurtal, der die republikanische Freiheit, die Guercœur dem Volk errungen hat, durch eine nationalistische Tyrannei ersetzen will, hat einen Auftritt, der an US-Präsident Trump erinnert: Johlende Fans mit Fahnen und Plakaten stürmen ins Publikum, Luftballons schweben ins Parkett.

Es ist ein großer, ein großartiger Abend. Und es ist ein Abend eines kleinen Wunders. 88 Jahre nach der Uraufführung ist „Guercœur“ erstmals wieder auf einer Bühne zu sehen. Und diese Bühne steht nicht in einer Metropole, sondern in der niedersächsischen Provinz, im Stadttheater von Osnabrück.

Sicher, die Musiksparte des Theaters Osnabrück präsentiert oft Stücke abseits des gängigen Repertoires. Ferruccio Busonis „Doktor Faust“ ist noch nicht lange her, ebenso Tommaso Traettas „Antigona“ und Sidney Corbetts „San Paolo“.

Entdeckung besonderer Art

Aber „Guercœur“ ist eine Entdeckung besonderer Art. Nicht nur, dass hier jemand, der sein Volk vom Totalitarismus befreit hat, erkennen muss, dass dasselbe Volk kurze Zeit später alles daransetzt, diesen Totalitarismus wieder einzuführen: „Das Vaterland über alles!“. Nicht nur, dass hier jemand, der als Bezwinger der Despotie eigentlich ein Sympathieträger ist, zugleich Skepsis weckt, weil er krank ist vor Ruhmsucht. Die Läuterung, die hier beschworen wird, könnte moderner nicht klingen: „Die Vermischung der Rassen und Sprachen“, singt Vérité inbrünstig, „wird der Menschheit eine Kultur des Friedens geben …“.

Ungewöhnlich ist schon die Geschichte der Oper selbst: 1914 werden die Noten zu Akt 1 und 3 vernichtet, als Magnard in seinem Landhaus gegen eine deutsche Kavalleriepatrouille zur Waffe greift – Magnard wird erschossen, sein Haus geht in Flammen auf, „Guercœur“ muss rekonstruiert werden, erst 1931 wird die Oper inszeniert.

Nächste Aufführung: Mi, 26. 6., 19.30 Uhr, Osnabrück, Theater am Domhof.

Letzte Aufführungen: Di/Mi, 2./5. 7.

www.theater-osnabrueck.de

Dieser Abend macht vieles richtig. Generalmusikdirektor Andreas Hotz wuchtet seine spätromantische Dramatik so machtvoll aus dem Orchestergraben, dass allein das pure Zuhören ein Genuss ist. Gut auch, dass Schmeding Akt 2 nicht im Mittelalter spielen lässt, sondern im Heute, verstehbar als Kritik an Sammelbecken rechter Demagogen wie AfD, NPD und III. Weg. Und der Chor singt, was wie überirdisch klingt, teils von der Beleuchtungsbrücke herab.

Klar, es gibt Hakeligkeiten. Zum Beispiel, dass die Gesichter, die in Akt 1 aus dem Dunkel erscheinen, von Lampen erhellt werden, die die Darsteller am Körper tragen – was leider zu sehen ist. Zum Beispiel, dass die satirische Schlafzimmerszene in Akt 2 unfreiwillig in Richtung Komödie driftet. Und, ja, wer je selber beim Rettungsdienst war, merkt, dass Guercœurs Retter, sagen wir mal, etwas planlos agieren. Aber das fällt nicht ins Gewicht.

Am Ende gab es Standing Ovations. Verdient.

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