Ombudsfrau über NSU-Dokuzentrum: „Überlebende und Angehörige sollten im Mittelpunkt stehen“
Ein Gesetzentwurf für das geplante NSU-Dokuzentrum ist gescheitert. Angehörigen-Vertreterin Barbara John sagt, was in Zukunft besser werden muss.
![Die Angehörigen der Opfer des NSU stehen in einem Kirchenraum hinter weißen Kerzen, am Rand des Raumes eine Fahne der Bundesrepublik Deutschland Die Angehörigen der Opfer des NSU stehen in einem Kirchenraum hinter weißen Kerzen, am Rand des Raumes eine Fahne der Bundesrepublik Deutschland](https://taz.de/picture/7518020/14/37659993-1.jpeg)
taz: Frau John, das Gesetz für ein NSU-Dokuzentrum ist Ende Januar gescheitert. Die Bundesregierung wollte damit einen Gedenk- und Lernort in Berlin schaffen. SPD und Grüne haben aber keine Mehrheit mehr gefunden. Was bedeutet das für die überlebenden Opfer und die Angehörigen?
Barbara John: Natürlich ist es eine Enttäuschung, dass es jetzt erst mal nicht weitergeht. Umso mehr hoffen die Angehörigen-Familien, dass auch die nächste Bundesregierung das Projekt wieder aufnimmt. Grundsätzlich sind sie nach wie vor bereit, sich zu engagieren.
ist CDU-Politikerin und seit 2011 die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer des NSU. Außerdem ist sie Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin und war lange Jahre die Ausländerbeauftragte der Hauptstadt.
taz: Wer trägt die Schuld?
John: Die Ampel hat zu spät mit diesem komplexen Vorhaben angefangen. SPD, Grüne und FDP hatten sich das Dokuzentrum 2021 in den Koalitionsvertrag geschrieben, aber erst im Sommer 2024 legte das Bundesinnenministerium einen Gesetzentwurf vor. Andererseits war es ja auch für SPD, Grüne und FDP nicht abzusehen, dass ihre Koalition kurz darauf auseinanderbrechen würde. Mit mehr Zeit hätte es klappen können. Ich sehe das als eine Verkettung unvorhersehbarer Umstände an.
taz: Die Union hätte das Projekt retten können, indem sie zustimmt.
John: Es ging hier um ein Gesetz der Ampelkoalition. Bei der Anhörung im Innenausschuss gab es Einwände von vielen Seiten. Sollten die einfach durchgewunken werden? Als ich die teilnehmenden CDU-Abgeordneten nach der Sitzung ansprach, sagten sie, es gäbe keine grundsätzliche Ablehnung. Aber ohne Beratung der Einwände sei das nicht möglich gewesen.
Als selbsterklärter Nationalsozialistische Untergrund ermordeten Uwe Böhnhard, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe zwischen 2000 und 2011 insgesamt zehn Menschen, fast alle hatten einen Migrationshintergrund. Sie begingen zahlreiche weiter Mordversuche und Bombenanschläge mit sehr vielen Verletzten. Die Polizei schloss einen rechtsextremen Hintergrund lange Jahre aus und ermittelte stattdessen teils gegen die Angehörigen der Opfer. In der Boulevardpresse wurden die Verbrechen rassistisch als „Dönermorde“ bezeichnet. 2011 enttarnte sich der NSU nach einem missglückten Banküberfall selbst, Böhnhard und Mundlos begingen Suizid. Zschäpe wurde 2018 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Während klar ist, dass der NSU auf ein großes Netzwerk von Unterstützer*innen bauen konnte, ist umstritten, ob es nicht noch weitere Mitglieder der Gruppe gab. Auch Verstrickungen der Sicherheitsbehörden sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt. So waren etwa vom Verfassungsschutz bezahlte V-Leute bei Morden nachweislich in der Nähe. Unmittelbar nach dem Auffliegen der Gruppe wurden bei mehreren Landesämtern des Verfassungsschutz große Mengen an Dokumenten vernichtet.
taz: Das Vorhaben würde also auch unter einem Kanzler Friedrich Merz weiterverfolgt?
John: Es gibt eine prinzipielle Wertschätzung des Anliegens. Wird die Union den nächsten Bundeskanzler stellen, kommt das Thema nach meiner Einschätzung wieder auf den Tisch,
taz: Sollte die nächste Bundesregierung den gescheiterten Gesetzentwurf dann genau so wieder aufgreifen?
John: Es braucht Nachbesserungen. Konkret geht es ja bei dem Gesetzentwurf darum, eine Stiftung zu schaffen, die das Dokuzentrum aufbauen und tragen soll. Im Stiftungsrat sind bisher aber zu wenig Plätze für Vertreter der Angehörigen vorgesehen. Sie fühlen sich reglementiert und bevormundet von den staatlichen Behörden. Eine Familie ist deshalb aus dem Projekt ausgestiegen. Und sie haben einen Punkt: Die überlebenden Opfer und die Angehörigen der Ermordeten sollten im Mittelpunkt stehen, selbst wenn es der Bundesregierung und dem Parlament mehr um Erinnerungspolitik geht.
taz: Erinnerungspolitik?
John: Die Bundesregierung will ein politisches Dokumentationszentrum. Es soll auch als kollektive Mahnung und Erinnerung an die europaweit singulären Terrortaten des NSU dienen. Aber das soll auch der Einstieg sein in ein größeres Thema, nämlich die Entwicklung von Rassismus und Rechtsterrorismus in Deutschland seit 1945. Ein durchaus berechtigtes Interesse. Für die Angehörigen und die Überlebenden stehen aber gleichberechtigt die unvorstellbar harten Schicksale ihrer Familien im Mittelpunkt.
taz: In Chemnitz wird bereits ein NSU-Dokuzentrum aufgebaut. Warum braucht es noch eins in Berlin? Anders als in Chemnitz gibt es hier keine direkte Verbindung zum NSU-Terror.
John: Indirekt sehr wohl! Berlin ist das politische Zentrum. In den Tatjahren und danach haben die Bundesregierung und die politischen Parteien den total falschen Ermittlungsansatz der Sicherheitsbehörden schweigend gebilligt. Er passte noch in die verbreitete Parole, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Für Berlin spricht außerdem, dass es die Hauptstadt ist, hier können die Bundestagsabgeordneten Besucher einladen, es kommen Menschen aus der ganzen Welt. Ein Gedenkort in Berlin hat eine große Sichtbarkeit und Ausstrahlung.
In Chemnitz handelt es sich lediglich um ein Pilotprojekt. Es wird im Mai eröffnet als Teil des Projekts Europäische Kulturhauptstadt 2025 eröffnet und ist nur bis Ende des Jahres finanziert. Für die Angehörigen waren Orte wie Chemnitz und Zwickau anfangs kaum vermittelbar. Das waren die Rückzugsorte in denen das NSU-Trio lebte, nachbarschaftliche Unterstützung erfuhr und die Tatwaffe bekam.
taz: Und mit einem Dokuzentrum in Berlin ist die Aufarbeitung dann erst einmal abgeschlossen?
John: Ganz und gar nicht. Ich fordere schon lange, dass der Bundestag sich mit Entschädigungen für die Angehörigen und die überlebenden Opfer befasst. Die Hinterbliebenen hatten schwerste Verluste zu verkraften: psychisch, physisch, materiell und auch sozial. Sie leiden noch heute darunter.
Was meinen Sie?
Beispielsweise musste eine Familie nach dem Mord am Vater den Kiez verlassen, eine andere in der Türkei das Dorf in dem sie lebten, weil sie von der deutschen und türkischen Polizei behelligt wurden, die ihnen eine Verstrickung ins Drogenmilieu nachweisen wollte. In der Schule wurden die Kinder ausgegrenzt, weil ihr ermordeter Vater angeblich kriminell gewesen sei. Eine andere Familie musste ihre Wohnung verkaufen, um finanziell über die Runden zu kommen.
taz: Dafür gab es nie eine Entschuldigung und eine Entschädigung?
Keine offizielle von den Sicherheitsbehörden. Es gab Ansätze für Schmerzensgeld, aber erst nachdem die Täter sich im November 2011 enttarnt hatten. Noch während der Mordserie und Jahre danach suchten die Ermittlungsbehörden die Täter ja ausschließlich in der Nähe der Opfer, die ihr Leben aus eigener Kraft wieder aufbauen mussten. In dieser Zeit galten sie nicht als Terroropfer.
taz: Sie fordern außerdem immer wieder eine Ausweitung der Opferrechte vor Gericht.
Beate Zschäpe will offenbar 2026 einen Antrag auf Haftentlassung stellen. Die Tatbetroffenen haben keinerlei Möglichkeiten, dabei mitzureden. Sie müssen nicht einmal informiert werden.
taz: Die Angehörigen sollen über Zschäpes Schicksal mitentscheiden?
Nein, die Entscheidung liegt allein beim Strafvollstreckungsgericht in München. Es geht auch nicht darum, die Resozialisierung von Frau Zschäpe zu behindern. Sie kann aber mit Hilfe ihres vom Staat bezahlten Anwalts darstellen, wie sie in der Haft zu einer geläuterten Mitbürgerin wurde. Die Terroropfer dagegen haben nicht das Recht, zu berichten, was sie als Überlebende und Angehörige durchgemacht haben. Auch beim ursprünglichen Prozess in München gegen Zschäpe wurde kaum danach gefragt.
Es wurden nicht alle Möglichkeiten genutzt, die Opfer über ihre Erfahrungen berichten zu lassen. Durch die Erweiterung der Opferrechte könnte das noch nachgeholt werden, übrigens auch für andere Opfer von Terrorismus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!