piwik no script img

Olympiaboykott vor 40 Jahren„Es war mein Pech“

Ex-Zehnkampf-Weltrekordler Guido Kratschmer erklärt, wie der Boykott der Olympischen Spiele in Moskau vor 40 Jahren sein Leben verändert hat.

In Moskau 1980 zum Zuschauen verdammt: Guido Kratschmer Foto: Frank Leonhard/dpa
Interview von Frank Ketterer

taz: Herr Kratschmer, wo waren Sie am 26. Juli 1980 so gegen 18.20 Uhr?

Guido Kratschmer: Ach du liebe Güte, keine Ahnung. Aber wenn Sie jetzt so fragen, war ich wahrscheinlich gerade in Moskau.

Stimmt. Um 18.20 Uhr wurde im Luschniki-Stadion in Moskau die letzte Disziplin im Zehnkampf, der 1.500-Meter-Lauf, gestartet. Haben Sie das Rennen verfolgt?

Mit Bestimmtheit kann ich das gar nicht mehr sagen. Ich war im Stadion, aber explizit an das Rennen kann ich mich nicht mehr erinnern.

Olympiasieger wurde der Brite Daley Thompson mit 8.495 Punkten. Wie sehr hatten Sie das Gefühl, dass das eigentlich Ihre Goldmedaille ist?

Nein. So hab ich damals nicht gedacht oder gefühlt. Dailey hatte einfach das Glück, dass die Briten bei den Spielen dabei waren und wir nicht. Aber deswegen habe ich ihm den Sieg und die Medaille nicht missgönnt. Es war einfach mein persönliches Pech, dass Deutschland die Spiele boykottiert hat.

Die Bundesregierung hatte am 23. April 1980 beschlossen, sich dem Olympiaboykott der USA anzuschließen, am 15. Mai folgte die Mitgliederversammlung des Nationalen Olympischen Komitees dieser Entscheidung. Hat Sie das Nein des Sports überrascht?

Total. Das hat mich sehr getroffen. Bis dahin war ich mir ziemlich sicher, dass das NOK dafür sorgen würde, dass wir hinfahren dürfen. Aber da habe ich mich mächtig getäuscht. Zumindest ein Großteil des Sports ist der Entscheidung der Bundesregierung gefolgt.

Auslöser für den Boykott war der sowjetische Einmarsch in Afghanistan am 27. Dezember 1979. Wie haben Sie den wahrgenommen?

Natürlich fand ich das nicht gut. Es ist doch vollkommen klar, dass man nicht billigen konnte, was da passiert ist. Aber es stand für mich auch fest, dass die Russen aus Afghanistan nicht rausgehen würden, bloß weil wir Olympia boykottieren. Das hätte ja nichts daran geändert. Wenn man die Möglichkeit gesehen hätte, dass der Boykott etwas an der Situation ändert, dann hätte man auch ein Einsehen gehabt. Aber das war nicht so.

Sportler aus Großbritannien, Italien und Frankreich haben entgegen dem Willen ihrer Regierungen in Moskau teilgenommen. Warum nicht der deutsche Sport?

Wenn ich das wüsste … Es wurde gar nicht groß diskutiert.

Wie hat sich Ihr Leben durch den Boykott verändert?

Mein Ziel war es, Gold in Moskau zu gewinnen – und dann mit dem Sport aufzuhören. Das hat bekanntlich nicht hingehauen. Ich hab dann halt nicht aufgehört, sondern weitergemacht, auch wegen der Sporthilfe. Allerdings hat mir in den folgenden beiden Jahren der Biss gefehlt, der Wille, sich zu quälen. Der kam erst wieder 1983, als ich beschlossen habe, bei den Spielen in Los Angeles im Jahr darauf teilzunehmen.

Warum waren Sie sich so sicher, Gold zu gewinnen? Daley Thompson hatte zuvor schließlich das Meeting in Götzis mit neuem Weltrekord von 8.622 Punkten gewonnen?

Ich fand mich damals auch psychisch überlegen. Daley und ich waren ungefähr gleich stark, aber was die Psyche anbelangt, war ich damals stärker. Ich habe einfach in mir geruht – und das wusste er auch. Deshalb war ich auch überzeugt, dass ich in Moskau gewinne.

Dazu passt, dass Sie Thompons Rekord drei Wochen später mit 8.649 Punkten überboten haben. War das die Trotzreaktion auf den Boykott? Ist es vielleicht gar der wütendste und gleichsam verzweifeltste Weltrekord der Leichtathletik-Geschichte?

Ja. Für mich auf alle Fälle. Wobei es gar nicht meine Art war, so etwas anzukündigen und mich damit unter Druck zu setzen.

Wie sehr war dieser Weltrekord Genugtuung?

Ich war einfach zufrieden, dass ich es geschafft habe. Aber es war trotz alledem nicht das, was ich ursprünglich erreichen wollte. An den Welt­rekord hatte ich nie gedacht. Ich war immer auf die Goldmedaille bei ­Olympia ­fixiert. Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, was es für ein Glück war, ­einen Weltrekord aufgestellt zu haben.

Wie oft haben Sie darüber nachgedacht, wie Ihr Leben verlaufen wäre, hätten Sie in Moskau gewonnen?

Eigentlich gar nicht. Ich habe einfach hingenommen, wie es war – und daraus das Beste gemacht.

Sie waren dann für den Stern als Tagebuchschreiber in Moskau bei den Spielen. Wie haben Sie das erlebt?

Ich hatte den Eindruck, dass das Publikum gar nicht mitbekommen hat, dass die Spiele boykottiert wurden. Weil Engländer dabei waren oder Franzosen und Italiener, ist das überhaupt nicht aufgefallen. Auffallend war hingegen, dass das Publikum extrem unfair war. Wer nicht aus der UdSSR kam, wurde gnadenlos ausgepfiffen. Das hat mich sehr enttäuscht.

Wie lange hatten Sie an dem Boykott zu knabbern?

Lange. Sehr lange. Bestimmt 20 oder 25 Jahre. Ich war selbst überrascht, wie lange mir das nachgegangen ist. Wenn ich darauf angesprochen worden bin, kamen immer wieder Emotionen hoch. Inzwischen bin ich aber drüber hinweg.

Im Interview: 

Guido Kratschmer, mittlerweile 67, ist studierter Sportlehrer und gelernter Landwirt. Er gehörte in den Siebzigerjahren zu den besten Zehnkämpfern der Welt: 1974 EM-Bronze, 1976 Olympia-Silber, 1980 Olympiafavorit. Er lebt in Rheinhessen auf einem Bauernhof.

Sie wurden zwar 1984 in Los Angeles noch Vierter, aber ist Ihre Karriere dennoch durch den Boykott zu Ende gegangen?

Irgendwie schon. Nach Moskau war es anders als davor. Ich konnte mich danach nicht mehr so in den Sport reinbeißen, vielleicht auch weil ich wusste, dass ich dabei war, den Zenit zu überschreiten. Ich war zwar in der Lage, noch ganz gute Punktzahlen zu erzielen, aber nicht mehr in dem Bereich, in dem ich vor Moskau gewesen war.

Wie blicken Sie heute auf den Boykott?

Er war unsinnig. Der Sport wurde von der Politik benutzt und wir Sportler mussten es ausbaden. Das war böse.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Zitat 1: „Es war einfach mein persönliches Pech, dass Deutschland die Spiele boykottiert hat.“

    Zitat 2: „Er [Anm.: der Boykott] war unsinnig. Der Sport wurde von der Politik benutzt und wir Sportler mussten es ausbaden. Das war böse.“

    Wer das, was Guido Kratschmer 1980 gedacht hat, mit dem vergleicht, was er jetzt denkt, der kann den Politikern, die damals für den Boykott waren, nur gratulieren. Sie haben einen Mann, der sich für nichts als den Zehnkampf interessiert hat, politisiert. Wenn auch in einem negativen Sinn. Ob es das wert gewesen ist? Für manchen sicher.

    Dass „die Russen aus Afghanistan nicht rausgehen würden“, bloß weil (West-)Deutschland Olympia boykottiert, haben vermutlich auch die Politiker gewusst, die für den Boykott gestimmt haben. Die Selbstüberschätzung, die nötig gewesen wäre, das nicht genau so klar vorherzusehen, wie ein ganz unpolitischer Sportler, traue ich niemandem zu, der mehr als ein paar Tage mit Politik befasst war. Die Kerle wollten einfach ein Statement abgeben. Genauer: Sie wollten ein Statement abgeben lassen. Was es die Sportler kosten würde, war ihnen sch...egal. Sportler sind Aushängeschilder für solche Leute, keine Menschen.

    Warum nicht auch deutsche Sportler nach Moskau gereist sind, um da auf eigene Faust zu starten? Weil auch die deutschen Sportler sich als Aushängeschilder verstanden haben zu Anfang der 1980er. Das war westlich des Eisernen Vorhangs nicht sehr viel anders, als östlich davon. Der Kalte Krieg hat die, die an der „Nahtstelle“ zuhause waren, ziemlich geprägt, auch wenn sie das nicht so empfunden haben. Es wurde nicht groß diskutiert, weil es da nichts zu diskutieren gab. Man sollte und man wollte Abgrenzung. Und wenn die einen Deutschen hingefahren sind, konnten die anderen eben nicht auch fahren. Wer wollte denn schon als Verräter gelten? Lieber hat man seinen Trotz kanalisiert - und einen Weltrekord daraus gemacht. Es lebe der Sport!

    • @mowgli:

      "Auf eigene Faust" konnte man damals bei Olympia nicht starten. Wenn das eigene NOK nicht antrat, konnte man nicht antreten. Öffnungen für Einzelsportler (bspw. Flüchtlinge oder russische Einzelathleten, die nicht im Dopinsystem verstrickt waren) wurde erst später möglich.

  • "Deutschland" hat Moskau 1980 nicht boykottiert - nur die ehemalige BRD.