piwik no script img

Ohne Gepose

■ Andächtig-ruhiger Abend mit Vic Chesnutt und Band im Knust

Es gibt Ereignisse, die sich mit enormer Hartnäckigkeit in die Gehirnwindungen einnisten, um, dort verharrend, ewig wiederbelebt zu werden. Wenn ein an den Rollstuhl gefesselter Musiker von seiner Band auf die Bühne getragen wird, dort zur Gitarre greift, und sein Publikum auf eine zweistündige Odyssee der Gefühle entführt, ist so ein Augenblick gekommen.

Doch Vic Chesnutt wäre nicht er selbst, stellte er sein physisches Handicap in den Vordergrund oder versuchte gar, Kapital daraus zu schlagen. Zu sehr dominieren schwarzer Humor und seelische Abgründe in dem Mann aus Athens/South Georgia, als daß er sich an irgendeiner Form von Mitleidshudelei vergreift. Sein feinfühliges Gitarrenspiel, gepaart mit einer gedämpft-melancholischen Stimme, reichten völlig aus, um die fast andächtig lauschende Zuhörerschaft im Knust zu rühren.

Hätte er nicht zwischen den Stücken seine Witze mit Bassistin Tina (“Tina wants me to sing this song“) und Trommler Rob getrieben, einige Augen wären vielleicht sogar feucht geworden. Doch immer, wenn die sanfte Schwermut seiner Songs, eine Seele voller Sarkasmus offenbarend, den Abend zu überlagern drohte, zauberte Vic kurzerhand eine Anekdote, zum Beispiel über seine Erfahrungen in holländischen Coffeeshops, aus dem Hut, und schon schlug die ruhigere Stimmung in unbeschwerte Laune um.

Und schon das nächste Intro, gepfiffen oder auf der Mundharmonika vorgetragen, beschwor wieder diese Atmosphäre herauf, die die Scheinwerfer-Spots vor dem geistigen Auge in lodernde Lagerfeuer und das Rauschen der Knust'schen Klimaanlage in einsame Winde verwandelte.

Bevor die Naturgewalten verstummten und Schlagzeuger Rob sich ein letztes Mal aus der rauchgeschwängerten Versenkung von Becken und Hi-Hat erhob, wurden noch spezielle Zuschauerwünsche erfüllt, wobei Vic Chesnutt und Band ihr Improvisationstalent bewiesen. Zwei ebenso unspektakuläre wie emotionsgeladene Stunden ohne Schmalz und großes Gepose, dafür umso ergreifender.

Andreas Dey

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen