Querspalte:
Oh, welch kunstvolle Scheiße!
Anlässlich der Verleihung der Goldenen Bären bei der Berlinale gestern sah ich eine Liste der Gewinner vergangener Jahre durch. Zugegeben, ich bin kein Experte in Sachen künstlerischer europäischer Film, doch ich war überrascht, wie wenige der Filme ich kannte. Kennt irgendjemand „Trockener Sommer“ von Ismail Metin aus der Türkei, den Gewinner des Goldenen Bären von 1964? Oder Márta Mészéros „Die Adoption“ von 1975? Oder Marco Ferreris „Das Haus des Lächelns“ von 1991? Doch selbst die Filme, die ich kannte, waren im Allgemeinen fragwürdig wie etwa John Cassavetes „Love Streams“ von 1984 . Meine Schlussfolgerung daraus ist, dass die Berlinale-Jurys entweder von dem „Künstlerischen“ oder von dem „Outsider“-Status eines Films verblendet waren. Denn die Berlinale ist ein „Outsider“. Zu Cannes, Venedig oder Hollywood gibt es einen verdammt großen Abstand.
Dieser Eindruck verstärkte sich während der letzten Berlinale. Doch noch schlimmer war es 1999 gewesen: Während des gesamten Festivals damals wurde nur über einen Mann names Terence Malick gesprochen, der in seiner ganzen Karriere drei Filme gemacht hatte, jeder von ihnen ein Meisterwerk. Der dritte war der beste von allen: „Der schmale Grat“. Dieser Film war der Beweis seiner Vollkommenheit (immerhin soll er Heidegger lesen), seines wahrhaft höheren Wesens als Künstler – ein Film über den Krieg von einem Mann, der nie im Krieg gekämpft hatte. Welche originellen Einsichten er wohl mitteilen würde!
Ich war im Zoo-Palast zur Premiere. Nick Nolte, Sean Penn und alles was Rang und Namen hatte war dabei. Der ganze Saal war in Aufregung, die Journalisten waren da, und der Einzige, der nicht da war, war Mr. Terence Malick. Würde sich der geheimnisvolle Mann im Anschluss an seinen eigenen Film zeigen? Nun, nach einer kurzen Weile tat er es wirklich. Er wurde vorgestellt durch den würdevollen Festivaldirektor, sprach zu uns: „Ich hoffe, Ihnen hat der Film gefallen“, und verließ sofort die Bühne wieder. Uns gefiel das, allerdings. Uns gefiel es so gut, dass selbst als der Film auf einmal auf dem Kopf weiterlief, niemand einen Piep von sich gab. Vielmehr verfielen wir in andächtiges Schweigen. Der Große Malick, den wir nie zuvor gesehen hatten, hat es wieder getan! In der Mitte dieser Kampfszene, in der es ans Eingemachte ging, zeigte er uns den Kampf aus der Perspektive eines gefallenen Soldaten! Wie kühn! Welch große Kunst!
Dann brach der Film ab. Die Lichter gingen an. Keine Kunst. Keine Kühnheit. Nur ein dummer Fehler des Filmvorführers. Na ja, solche Scheiße ist uns dieses Jahr erspart worden? „Magnolia“ hat den Goldenen Bären gewonnen, ein sauberes Stück Hollywood-Handwerk, alles richtig rum projiziert zudem. Welch Wunder! Kevin McAleer
Übersetzung: Sabine Vogel
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