Österreichisches Ensemblefilm "Fallen": Nach all diesen Jahren

Fünf Frauen treffen sich wieder, schmettern "Jeanny" und blicken ihrem Lebensweg hinterher. Der Film "Fallen" Barbara Albert.

Eine Ahnung von Freiheit? Bild: promo

Fünf Freundinnen haben sich fast anderthalb Jahrzehnte nicht gesehen. Sie sind zusammen zur Schule gegangen, nach dem Abitur haben sie sich aus den Augen verloren. Jetzt sind sie Anfang 30. Weil ein Lehrer von ihnen gestorben ist, kommt es in der Friedhofskapelle zu einem Wiedersehen. Drei der fünf Frauen sind berufstätig: Brigitte (Birgit Minichmayr) ist in der Kleinstadt geblieben und unterrichtet an derselben Schule, die sie als Jugendliche besuchte. Alex (Ursula Strauss) lebt in Wien, wo sie eine Stelle bei einem Arbeitsamt hat. Carmen (Kathrin Resetarits) ist nach Deutschland gegangen und versucht ihr Glück als Schauspielerin. Nina (Nina Proll) lebt auch in Wien, hat keinen Job und ist im siebten Monat schwanger. Nicole (Gabriela Hegedüs) hat eine zwölf Jahre alte Tochter und einen Tag Freigang - normalerweise sitzt sie im Gefängnis.

Die Grundkonstellation, die die Wiener Regisseurin Barbara Albert ("Nordrand", "Böse Zellen") für ihren neuen Spielfilm "Fallen" wählt, ist einfach und vertrackt zugleich. Einfach wegen der zeitlichen Einheit, die beinahe aristotelischen Maßstäben folgt: am Morgen die Beerdigung, am Mittag der Leichenschmaus, am Nachmittag ein Besuch in der Schule, am Abend ein Hochzeitsfest, in das die fünf wie zufällig hineingeraten; in der Nacht ein Ausflug in die einzige Diskothek der Kleinstadt, in der Dämmerung tiefe Gespräche an einem verglühenden Lagerfeuer, am Morgen kurzer Schlaf und Aufbruch, schließlich ein Postskriptum, das dem Film eine verhalten hoffnungsvolle Wendung verleiht. Einfach ist die Konstellation auch, weil aus der Begegnung von fünf Frauen nach so vielen Jahren ohne Kontakt automatisch hervorschießt, was einen Film füllt: Werdegänge, Hoffnungen, Träume, Sehnsüchte, Enttäuschungen, private und politische Vorstellungen vom guten, vom richtigen Leben, Gelingen, Scheitern. Barbara Albert muss fast gar nichts hinzufügen, der erzählerische Reichtum fällt ihr aus den Figuren zu.

Genau deshalb aber ist es auch vertrackt: So viele Erlebnisse und Erfahrungen, so viele Erinnerungen, so viele Träume von einst, konfrontiert mit der Realität von heute, so viel Kontingenz, so viel Nichtgesagtes, so viele Verletzungen - und all das will im Format des Spielfilms untergebracht sein, will eine Struktur finden, die nicht schematisch ist und dennoch ein gewisses Maß an Orientierung bietet.

Barbara Albert schafft diese Struktur behutsam. Auf die Fülle der möglichen Narrationen reagiert sie mit einem vergleichsweise offenen, skizzierenden Zugang. Statt die fünf Lebensläufe festzuzurren, lässt sie die Enden lose flattern. Das bedeutet, dass ihr Film über das hinausweist, was gewöhnlich als Puzzle- oder Mosaikfilm angeboten wird: Der Zuschauer kann die Summe der Fragmente, mit der "Fallen" operiert, in seinem Kopf nicht zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen. Es geht nicht um das nachträgliche Herstellen von Kontinuität, vielmehr bleiben einzelne Teile für sich stehen, ohne narrativen Zweck oder figurenpsychologische Belegfunktion. Selbst wenn sich ein tiefer Blickwechsel am Lagerfeuer und eine rätselhafte Eifersüchtelei vor einer Toilettentür rückwirkend dadurch erhellen, dass Alex und Brigitte am Morgen einen scheuen Kuss tauschen, so hat man nicht den Eindruck, die erste der Einzelszenen müsste zwangsläufig in die zweite und diese wiederum in die dritte münden. Eine in der Teenagerzeit angelegte Vorgeschichte zu diesem Kuss spart sich Albert ohnehin - wohlwissend, dass zu viel Motivation die Figuren und deren Handeln erstickt.

So liegt die Stärke von "Fallen" darin, wie Albert Atmosphären und Details in Szene setzt: wie Nina den Redefluss eines ehemaligen Schulkameraden über sich ergehen lässt, sich dabei an ihrer Kaffeetasse festhält und am Ende, wenn der Mann auf Ökofonds zu sprechen kommt, einfach gar nichts mehr sagt. Wie sie kurz zuvor, beim Beerdigungsgottesdienst, in Gelächter ausbrechen muss, nachdem der Chor einen Gospel gesungen hat: "Heaven is a Wonderful Place". Wie die fünf an einer Klippe im Gelände stehen und sich dem Wind entgegenstemmen. Wie sie auf dem Parkplatz vor dem Gasthof Falcos "Jeanny" singen oder später, während sie im Auto über Land fahren, einen Song von Mia ("Fallen" ist ein bemerkenswert musikalischer Film).

Das ländlich-kleinstädtische Umfeld wird genau beobachtet, manchmal kommt dabei seine Dumpfheit zum Vorschein - zum Beispiel in einer hinreißenden Szene in der Diskothek: Die Braut, ganz in Weiß, und Alex, ganz in Schwarz, wirbeln über die Tanzfläche, beide sind nicht mehr imstande, ihre Bewegungen zu kontrollieren. Die Umstehenden beginnen, "ausziehen, ausziehen!" zu grölen, die Tanzenden folgen der Aufforderung. Als der DJ einen anderen Song einspielt, sucht Alex verlegen nach ihrem BH. Weiter geht Albert nicht. Die Szene muss reichen, um den kleinbürgerlich-ländlichen Stumpfsinn wachzurufen. Mehr an Denunziation, mehr an Austro-Selbsthass wäre billig.

Bemerkenswert ist, wie Albert den Ablauf der Zeit organisiert. Zunächst einmal gibt es, wie losgelöst vom Restgeschehen, Erinnerungen, die als Nahaufnahme von Körperteilen daherkommen - ein Fuß mit lackierten Zehennägeln auf einem weißen Bettlaken, ein Unterarm, auf den nach Teenagerart Namen und Zeichnungen mit Kugelschreiber aufgemalt sind, ein Zungenkuss. Es sind Bilder aus der Schulzeit. Wo sie in den Film hineinragen, eignet der sich für ein paar Sekunden ein Bild aus der Imagination einer seiner Protagonistinnen an.

Es sind nicht die einzigen Augenblicke, in denen Albert aus dem geradlinigen Ablauf der Zeit ausschert. Sie organisiert "Fallen" in sechs Einheiten oder Blöcken. Die beginnen jeweils mit einer kurzen Serie von Standbildern, über die sich Folksongs, Gospel oder Protestlieder legen: "We Shall Overcome" zum Beispiel ist zu hören, während ein Standbild die Frauen vor einer Schultafel zeigt. "Wir sind frei" steht auf der Tafel. Man meint zunächst, ein Erinnerungsbild vor sich zu sehen, einen zum Standbild gefrorenen Flashback, doch 15, 20 Minuten später merkt man, dass der Film mit dem Standbild in die eigene Zukunft blickt: Das Foto wurde nicht in der Vergangenheit, es wird erst noch geschossen. Meistens endet ein Block in dem Augenblick, in dem der Film bei der Szene anlangt, die auf dem Standbild zu sehen war. Dabei wählt die Kamera (Bernhard Keller) eine etwas andere Perspektive, als man von der Standbildserie in Erinnerung hat. "Fallen" legt sich also in leichte Loops, sodass der Ablauf der Zeit nicht als voranschreitendes Kontinuum gefasst wird, sondern als nicht-linear. Nicht die objektive, die subjektive Zeit ist maßgeblich.

Das ist ein guter Kunstgriff für einen Film, in dem die Zeitpfeile von der Vergangenheit in die Gegenwart, von dort zurück und in die Zukunft schießen. Es ist auch ein guter Kunstgriff für einen Ensemblefilm, insofern der doppelte Blick auf eine Szene die Vielfalt der Perspektiven in sich birgt, eine Vielfalt, die daraus resultiert, dass fünf Protagonistinnen eine größere Summe an Blickwinkeln und Erfahrungen haben als eine einzelne Hauptfigur. Wenn man ein Standbild sieht, das aus einer bestimmten Perspektive aufgenommen wurde, und wenig später dieselbe Szene, aber von einem anderen Standpunkt aus, wird etwas Entscheidendes deutlich. Zu dem Bild, das man im Film sieht, gibt es zahlreiche Bildmöglichkeiten, die jedoch durch die Entscheidung für das eine, das sichtbare Bild verworfen werden.

Ähnlich verhält es sich mit den Lebenswegen der Figuren. Die nehmen einen bestimmten Lauf, weil irgendwann eine Entscheidung oder ein Zufall eine Richtung vorgab; andere mögliche Richtungen wurden in dem Moment ausgeschlossen. Je älter man wird, umso mehr Möglichkeiten scheiden aus, bis als letzte Möglichkeit der Tod übrig bleibt. "Fallen" ist weit davon entfernt, diesen Prozess als großes Drama in Szene zu setzen. Eine Ahnung von der Trauer, die das Verringern der Möglichkeiten bedeutet, ist dennoch zu spüren.

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