Ökonom über EU-Rettungsschirm: „Maximales Misstrauen“
Nach zehn Jahren endet der EU-Rettungsschirm für Griechenland. Ein weiteres Spardiktat ist geplant – dabei gebe es Potenzial, sagt Ökonom Alexander Kritikos.
taz: Herr Kritikos, die Arbeitslosigkeit in Griechenland liegt bei knapp unter 20 Prozent – klingt nach Dauerkrise trotz dreier Hilfspakete und großer Opfer vor allem der Armen.
Alexander Kritikos: Ja, tatsächlich dürften die Arbeitslosenzahlen sogar noch höher liegen, weil sich nicht alle ohne Job arbeitslos melden. Außerdem sind während der Krise 500.000 Griechen ausgewandert.
Was läuft denn falsch?
Griechenland muss dringend für innovative Unternehmen attraktiver werden. Die gehen sonst in Länder, in denen sie nicht 30 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Bürokratie zu kämpfen haben. Selbstständigen bleiben derzeit nach Abzug von Umsatz-, Einkommensteuer sowie Sozialabgaben von einem eingenommenen Euro 23 Cent, in Deutschland ist es mehr als das Doppelte.
Was ist denn gut gelungen?
Die Sanierung des Staatshaushalts und die zu hohen Lohnstückkosten (personalbezogene Herstellkosten, Anm. d. R.) wurden erheblich reduziert. Auch die Rentenreformen waren notwendig, selbst wenn sie bitter für die Betroffenen sind. Schließlich wurden die Arbeitsmärkte extrem dereguliert. Arbeitnehmer sind leichter kündbar, Löhne können leichter reduziert werden. Aber diese Erfolge bleiben zweischneidig, solange die übrigen Strukturreformen nicht durchgeführt werden. Derzeit sind die Arbeitsmarktreformen leider wenig hilfreich für abhängig Beschäftigte.
Was kann Griechenland tun?
53, ist Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW in Berlin und hat eine Professur für Industrie- und Institutionenökonomie an der Universität Potsdam.
Das Wichtigste ist, Vertrauen aufzubauen. Mit Strukturreformen, die acht Jahre lang trotz Aufsicht und Kontrollen durch „Troika“ und „Institutionen“ vernachlässigt wurden: eine bessere Verwaltung, eine bessere Justiz, niedrigere Steuern.
Und dann ist das Land über den Berg?
Derzeit ist es für ein Bergfest jedenfalls noch zu früh. Damit Investoren künftig wieder griechische Staatsanleihen kaufen, haben die Gläubiger noch einige Gaben ins letzte, das dritte Hilfspaket stecken müssen: 15 Milliarden Euro Liquiditätspuffer und eine Schuldenstreckung – nur damit Investoren sicher sein können, dass da nichts anbrennt.
Ja und?
Die Gaben waren nicht ganz kostenlos. Eigentlich beginnt am Dienstag ein neues, ein viertes Hilfsprogramm. Denn Griechenland hat im Gegenzug die Vorgabe akzeptiert, bis 2022 einen Primärüberschuss von 3,5, danach bis 2060 einen von 2,2 Prozent der Wirtschaftsleistung zu erwirtschaften. Primärüberschuss ist das Geld, das dem Staat vor Zinszahlung oder Schuldentilgung bliebe. Das heißt: Es gibt Haushaltsvorgaben für weitere 42 Jahre.
Ein weiteres Diktat.
Ich würde es eher als maximales Misstrauensvotum ansehen, das man einer griechischen Regierung aussprechen kann.
Ist es überhaupt möglich, so lange einen so hohen Etatüberschuss zu erwirtschaften?
Theoretisch ja, fragt sich nur, zu welchen Kosten: Diese Vorgabe heißt vor allem, dass der Staat lange nicht in der Lage sein wird, größere Investitionen zu tätigen, um Wachstum zu erzeugen. Aber offensichtlich trauen die Gläubiger der Regierung nicht zu, das Geld produktivitätssteigernd zu investieren.
Wäre es nicht besser gewesen, den Euroraum zu verlassen?
Nein. Die Folgekosten wären dramatisch: Banken wären gestürmt worden, Investoren und noch mehr gut Ausgebildete weggegangen. Auch die Staatsschulden hätten Griechenlands Gläubiger dann nahezu abschreiben können. Die Zeiten vor dem Euro verherrlichen manche gerne, aber damals gab es 30 Prozent Inflation. Das bedeutet kaum Investitionen, kaum Wohlstand und einen riesigen Braindrain.
Wie kommt man im Land heute damit zurecht, „Pleite-Grieche“ zu sein?
Schlecht. Griechenland braucht ein neues Image. Das Potenzial hat es: Man muss weg vom Image eines Urlaubslands. Man muss es machen wie Kalifornien und anfangen, attraktiv zu werden für qualifizierte Menschen – und nicht nur für Touristen.
Ist die Krise auch im Rest Europas vorbei?
Spanien, Portugal und Irland sind ganz gut rausgekommen. Bedrohlich ist für Europa die Situation in Italien und natürlich beim Brexit: Es bleibt zu hoffen, dass sich am Ende die Brexit-Gegner doch noch durchsetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene