■ Obwohl das Blutvergießen weitergeht, ist Algerien im Westen wieder hoffähig. Deutsche Konzerne freuen sich über wirtschaftliche Stabilität: Menschenrechte stören das Geschäft
Drei Tote durch eine Bombe auf einen Vorortzug südlich von Algier, 22 Tote bei einem Massaker nahe Oran, 16 Tote bei einer Explosion auf dem Markt von El Harrach... das Leiden der algerischen Bevölkerung geht weiter, auch wenn die Attentate der internationalen Presse kaum mehr als Kurzmeldungen wert sind. Längst hat sich die internationale Öffentlichkeit an das tägliche Blutvergießen gewöhnt, solange die Opferzahlen nicht in die Hunderte gehen.
In den Zeiten „relativer Ruhe“ schenkt kaum jemand den nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen Gehör, die nach wie vor mehr Licht ins Dunkel des nunmehr über sechs Jahre andauernden Konfliktes bringen wollen. So blieb die UN- Menschenrechtskommission auch auf ihrer jüngsten Jahrestagung einmal mehr untätig. Niemand schlug eine Resolution oder gar einen Aktionsplan zur Bekämpfung des Terrorismus im nordafrikanischen Land vor. Der Bericht, den die algerische Regierung in Genf vorlegte, wurde wie in den Vorjahren auch zu den Akten genommen.
Warum Armee und Polizei bei Massakern immer wieder zu spät kommen, bleibt ebenso unklar, wie die Frage nach angeblicher Unterwanderung der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) durch den militärischen Geheimdienst, wie sie Deserteure von Paris und London aus wiederholt anklagten. „Wir hier in Algerien wissen, wer wen tötet“, lautet die Standarderklärung, mit der algerische Regierungspolitiker solche Zweifel zurückweisen. Und das, obwohl in Algerien erstmals Bürgermeister entlegener Gemeinden um das westalgerische Relizane unter dem Verdacht, Massenhinrichtungen organisiert zu haben, verhaftet wurden. Allesamt Mitglieder der Regierungspartei National-Demokratische Versammlung und Angehörige der Patrioten, von der Armee ausgerüstete Bürgerwehren. Und wie offizielle Einheiten den Antiterrorismus verstehen, davon weiß die Algerische Liga zur Verteidigung der Menschenrechte (LADDH) ein Lied zu singen: Folter, Massenerschießungen bei Razzien in sogenannten heißen Stadtteilen, rund 2.000 Verschwundene lautet die Bilanz ihres Berichts.
Viel war vom gegenseitigen Lernprozeß die Rede, als die EU- Troika im Januar und eine Delegation des Europaparlaments einen Monat später nach Algier reisten. Doch von heute aus betrachtet hat sich nichts in der Haltung von Präsident Liamine Zéroual und seiner Regierungsmannschaft geändert. Algerien weigert sich weiterhin strikt, die UN-Sonderberichterstatter zu Folter und Verschwundenen einreisen zu lassen. Den Vertretern von amnesty international ergeht es nicht besser. Und die Journalisten der internationalen Presse erhalten außerhalb von Großereignissen wie den Parlaments- und Kommunalwahlen nur schwer ein Visum. Frei bewegen können sie sich ohnehin nicht.
Heute, noch nicht einmal ein halbes Jahr nach dem Besuch zweier hoher EU-Delegationen, haben die Regierenden in Algier nur eines gelernt: Die Reden ausländischer Besucher, so vehement sie auch die Aufklärung der Umstände der Massaker und die Einhaltung der Menschenrechte fordern, sind eine Sache; etwas ganz anderes ist der politische Alltag nach einer Reise. So blieb das kritische Nachfragen zu dem Bericht aus, den Algerien bei der UN- Menschenrechtskommission vorlegte, wie es die Delegation des Europaparlaments nach ihrem Algerienaufenthalt noch versprochen hatte. Selbst dem in Algier so couragiert aufgetretenen grünen Europaparlamentarier Daniel Cohn-Bendit scheint die Lust an „einer Entwicklung von Algerieninitiativen auf Ebene des EU-Parlaments“ vergangen zu sein. Zumindest während der Versammlung der UN-Menschenrechtskommission war von ihm nichts zu hören. Viele hätten sich das gewünscht, fällt Cohn-Bendit als Sonderberichterstatter des Europaparlaments doch die Aufgabe zu, eine Empfehlung angesichts des zur Verhandlung stehenden Assoziationsvertrages zwischen EU und Algerien auszusprechen.
Wie diese letztendlich ausfallen wird, interessiert weder in Algier noch in den europäischen Mitgliedsländern. Längst ist klar: Für die algerische Wirtschaft ist der Vertrag nur von untergeordnetem Interesse. Die Regierung von Premierminister Ahmed Ouyahia setzt auf breitgestreute bilaterale Kontakte, um so eine einseitige Abhängigkeit zu vermeiden.
Und alle wollen mitmischen. Fragen nach Menschenrechten stören nur das Geschäft. Ob die US-amerikanische Exxon, die britische BP, die französische Total oder die spanische Repsol, die Großen im Erdöl- und Erdgasgeschäft haben bereits in Algerien investiert. Deutschland, Italien und Frankreich sind genau in dieser Reihenfolge die größten europäischen Erdölabnehmer des nordafrikanischen Landes. Bei der bevorstehenden Privatisierung der Staatsindustrie haben sich viele Großkonzerne gute Startpositionen gesichert. Von deutscher Seite sind unter anderem so namhafte Konzerne wie MAN, Thyssen, Deutz und Mercedes-Benz längst wieder im nordafrikanischen Krisenland aktiv. Was interessiert, ist die wirtschaftliche Stabilität, und die kann Algerien wieder bieten. Nach dem das Land 1993 vor dem Bankrott stand, weist es jetzt wieder Devisenrücklagen von knapp neun Milliarden US-Dollar aus. Premierminister Ahmed Ouyahia will keine Verlängerung des Abkommens mit dem Internationalen Währungsfonds unterschreiben. Die letzte internationale Abhängigkeit fällt damit ebenfalls.
Nachdem er schon den Abbruch der ersten freien Wahlen und das Verbot der siegreichen Islamischen Heilsfront (FIS) durch das algerische Militär 1992 unterstützt hatte, macht sich der Westen mit der Aufnahme wirtschaftlicher Beziehungen ohne Vorabbedingungen ein zweites Mal mitschuldig am algerischen Drama. Die westlichen Investoren helfen, den Zerfall des Landes in zwei Zonen zu beschleunigen: „das nutzbare Algerien“ und „das nutzlose Algerien“. Dort, wo rentable Industrieanlagen stehen oder Erdöl und Erdgas gefördert wird, haben Armee und Polizei den Terror zurückgedrängt. Der Terror betrifft heute hauptsächlich das Hinterland ohne Ressourcen und die armen Stadtteile der Metropolen. Dieser „Restterror“, wie die Regierung die täglichen Gewalt gerne nennt, erfüllt eine Funktion, von der die Investoren ebenfalls profitieren. Unter der angespannten Sicherheitslage kam es bisher kaum zu Protesten gegen Liberalisierung und Privatisierung. Und das, obwohl die Bevölkerung zusehends verelendet. Reiner Wandler
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