Obdachlosen-Fußball: Kurz von Rio geträumt
150 Wohnungslose aus Deutschland spielen um einen Platz im Fußball-Nationalteam. Das tritt im September in Brasilien beim Homeless World Cup an.
Spätestens beim achten Gegentor wird Nils klar, dass es wohl doch nicht klappt mit Rio de Janeiro. Eigentlich hat er von Anfang an nicht so richtig daran geglaubt. Es war ja nur ein Traum. Aber als der 35-Jährige mit seiner Mannschaft hier auf dem Feld auflief, die Zuschauer klatschten und der Ball zu rollen begann, da hatte er ganz kurz das Gefühl, er könnte vielleicht doch gewinnen. Die Leute würden jubeln. Er würde eine Ehrenrunde drehen. Wie Ruud van Nistelrooy, sein Lieblingsspieler. Aber Nistelrooy, der Stürmer, und Torwart Nils unterscheidet nicht nur ihre Position im Spiel. Der Profi des Hamburger SV verdient Millionen - Nils ist obdachlos.
Am Freitagnachmittag steht Nils mit seiner Mannschaft, den "Juhus Kickern" auf dem Spielbudenplatz im Hamburger Stadtteil St. Pauli. Die Deutsche Fußballmeisterschaft der Wohnungslosen wird hier ausgetragen - und Nils tritt mit seinem Team für Hamburg an. Ein Kamerad hat sich schon vor dem ersten Spiel aus dem Staub gemacht. Er brauchte Drogen und konnte nicht länger warten.
Jetzt liegt es an Nils, die Ehre der "Juhus" zu retten. Im gelb glänzenden Trikot steht der blasse, große Mann auf dem Platz an der Reeperbahn und versucht, sein Tor sauber zu halten. Schweißperlen auf der Nase, der Blick entschlossen. Nils weiß: Die acht besten Spieler des gesamten Turniers werden in den Kader der deutschen Nationalmannschaft gewählt und fliegen im September zur Obdachlosen-WM, zum "Homeless World Cup" nach Rio de Janeiro.
Seit 2003 wird er jedes Jahr ausgetragen - von einem internationalen Netzwerk der Straßenzeitungen. Das Ziel ist nicht nur die Reintegration von Obdachlosen in die Gesellschaft, sondern auch Respekt und Aufmerksamkeit für Menschen, die kein Zuhause haben. Auch Drogenabhängige und Asylsuchende dürfen mitspielen. Rund 150 dieser Menschen aus ganz Deutschland sind am Wochenende nach Hamburg gekommen. Um gegen Vorurteile zu kämpfen. Und für ihren Traum von Rio.
Nils hält den Ball fest in den Händen. Es steht schon 0:10. Die Gegner aus der Jugendwerksiedlung Hannover waren 2007 Deutscher Meister. Nils hat mit seinem Team keine Chance. Direkt gegenüber dem nur 22 mal 16 Meter großen Spielfeld winkt ein metergroßer Harlekin von der Hauswand eines Kiez-Casinos. "Gib dem Glück eine Chance" steht auf dem Schild, das er in den Händen hält. Es wie blanker Hohn. Doch Nils will den Traum von Rio noch nicht aufgeben. Jetzt noch nicht.
Während der Hamburger noch zwei weitere Tore einfängt und die "Juhus" in nur zwei mal sieben Minuten 0:12 verlieren, machen sich am Spielfeldrand die nächsten Teams warm. So manches Mal fliegt der Ball über ihre Köpfe hinweg und knallt mit aller Wucht an die Wand des Sex-Kinos "St. Paulis Sexy Heaven". Zwischen ein paar Schaulustigen stehen auch Andrea und Ulf aus Oberfranken. Die Touristen sind zufällig bei ihrer Kiez-Tour auf den Spielbudenplatz gestoßen und wundern sich über die Kondition einiger Spieler. "Man denkt bei Obdachlosen ja schon oft an Alkoholiker mit Hund, die unter der Brücke schlafen", gibt Andrea zu. Dass viele von diesen Männern mal ein ganz normales Leben gehabt haben, das wird oft ausgeblendet.
Stefan Huhn kennt die Schicksalsschläge, die Enttäuschungen und Erlebnisse der Männer. Er steht am Spielfeldrand und macht sich Notizen. Der 48-Jährige wählt die Spieler aus, die im September zur Copacabana fliegen dürfen. Der Sport-Koordinator des Hamburger Bildungsträgers KoALA ist der Trainer des Nationalteams und erzählt, worauf es ankommt, wenn die Männer nach Rio wollen. Wer die sichersten Flanken schießt und wer die härtesten Bälle hält, das ist für ihn zweitrangig. "Für Rio brauche ich Teamplayer, die nicht ausflippen, wenn sie nicht ihre vier Bier am Spielfeldrand trinken dürfen." Huhn meint, es sei möglich, die Männer durch den Fußball wieder auf das Spielfeld der Gesellschaft zu flanken. Er habe das in seiner Arbeit mit Obdachlosen schon oft erlebt.
Wenn man Nils fragt, wie es dazu kam, dass er plötzlich kein Dach mehr über dem Kopf hatte, fängt der 35-jährige Hamburger an von "diesen Löchern" zu erzählen. Plötzlich sind sie da und Nils ist dann nicht mehr so wie sonst. Eigentlich ist er ein fröhlicher Mann. Höflich, lustig. Aber dann gibt es da auch diese Tage, an denen er in diese Löcher fällt. "Drei, vier Tage lasse ich dann nichts von mir hören", sagt Nils, "und verkrieche mich." Nils ist psychisch krank. Alleine bekommt er sein Leben nicht in den Griff. Immerhin ist er in einem Hamburger Wohnheim untergekommen.
Rio hätte ihm helfen können. Bei 70 Prozent der WM-Teilnehmer verbessert sich nach dem Turnier die Lebenssituation messbar - das hat die Stiftung "Ethecon" in den vergangenen Jahren ermittelt. Seit fünf Jahren ist sie Hauptsponsor der deutschen Mannschaft. Hat die Teams nach Mailand begleitet, nach Melbourne, Kopenhagen und Kapstadt. Dass Obdachlose oder Drogenabhängige nach dem sportlichen Erfolg der Ehrgeiz packt, ist fast normal. Das Selbstbewusstsein ist wieder da, die Kraft und der Mut, wieder einem Ziel zu folgen.
Auch Nils will es schaffen, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Auch ohne Sieg. Auch ohne Rio. Auf der Reeperbahn wird es Nacht. Die Amüsiermeile füllt sich. Das Turnier ist vorbei. Nur Nils ist noch da, seine Team-Kollegen sind nicht bis zur Entscheidung geblieben. "Hannibals Erben" aus Kiel haben gewonnen. Nils Mannschaft aus dem Hamburger Wohnheim hat 32 Gegentore eingefangen. So viele wie keine andere Mannschaft auf dem Kiez. Als die Namen der Spieler verlesen werden, die nach Rio fliegen, ist Nils nicht dabei. Sein kurzer Traum ist ausgeträumt. Aber "ein geregeltes Leben in Hamburg", sagt Nils, das sei ihm ohnehin viel wichtiger als der Ruhm von Rio. Außerdem hatte er auch ein mulmiges Gefühl: "Brasilien … die sind da so arm. Dagegen ist Deutschland ja Luxus", sagt Nils. Und geht zurück ins Obdachlosenheim.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren