Obdachlose: "Ich wollte keine abgehobene Medizin machen"
Barbara Weichler-Wolfgramm ist Ärztin aus Überzeugung. Seit mehr als 15 Jahren engagiert sie sich ehrenamtlich für die medizinische Versorgung Obdachloser. Nun bekam die 61-Jährige das Bundesverdienstkreuz - dabei vertritt sie in vielerlei Hinsicht durchaus unkonventionelle Meinungen.
Leicht zu erreichen ist sie nicht. Ihre private Telefonnummer gibt sie nicht heraus, genauso wenig wie ihre Adresse. "Ich traue den Medien nicht, nur dass Sie es wissen." Eine Begrüßung, die nicht gerade auf ein entspanntes Gespräch hoffen lässt. Für Barbara Weichler-Wolfgramm sind die Medien nur eine "Verwertungsgesellschaft", der Konsum macht die Menschen kaputt und für Ärzte, die nicht wie sie pro bono arbeiten, hat sie nicht viel Respekt übrig. Klare Ansagen also.
Weichler-Wolfgramm ist Ärztin und arbeitet in der Krankenstation der Berliner Stadtmission an der Lehrter Straße. Ihr kleines Behandlungszimmer ist unaufgeräumt. Unterlagen liegen durcheinander, bereit zur Bearbeitung, um den in die Jahre gekommenen Computer herum. Auf dem Schreibtisch steht ein voller Aschenbecher. Man merkt auf den ersten Blick: Das hier ist kein normales Krankenhaus.
Grundvoraussetzung, um auf der Krankenstation aufgenommen zu werden, ist, obdachlos und unversichert zu sein. Hier arbeitet die 61-Jährige seit 1996. Für ihre ehrenamtliche Tätigkeit wurde sie kürzlich von Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Linke) mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
90 Prozent ihrer Patienten sind Alkoholiker, sie kommen wegen der Krankheiten, die der Alkohol so mit sich bringt: Gastritis, eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse, Leberzirrhose, Korsakowsyndrom, eine Hirnleistungsstörung, aber auch Knochenbrüche nach Stürzen. Und sie kommen mit Krankheiten, verursacht durch das Leben auf der Straße ohne Krankenversicherung oder Dusche: offene Beine, Läuse, Krätze.
Die meisten Patienten der Krankenstation sind nicht mehr jung. "Die Jungen kommen nicht so gerne. Wenn man jung ist, toleriert man auch den Alkohol noch besser und man hat einen Freundeskreis, bei dem man mal unterkommen kann. Die Älteren haben schon viele Freunde verloren", erklärt Weichler-Wolfgramm. Daher leiden auch viele unter psychischen Krankheiten wie Depressionen und Angstzuständen. "Wenn die Leute aus dem Alkohol raus sind und nüchtern ihre Lage betrachten, kommt erst die Verzweiflung."
Nach ihrer Beobachtung hat die Zahl der Obdachlosen seit der Wende deutlich zugenommen. "Die allgemeine Lebenssituation hat sich verschärft, die Mieten sind gestiegen, die Leute dem Konsumrausch verfallen und haben sich verschuldet. Viele sind aus ihrem sozialen Gefüge herausgefallen, arbeitslos geworden, Ehen sind zerbrochen. Viele haben die Kurve nicht gekriegt."
Von der Krankenstation können Patienten nach ihrer Behandlung ins betreute Wohnen der Sozialstation im gleichen Gebäude wechseln und dort zum Beispiel ihre Alkoholprobleme in Angriff nehmen. Krankenstation und therapeutische Wohngemeinschaft sind ein sozialmedizinisches Projekt. Sozialarbeiter sind rund um die Uhr da. Sie helfen den Patienten, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Während auf der Station Alkohol verboten ist, gelten in der Wohngemeinschaft lockerere Regeln "Wenn der Patient nicht von sich aus trocken werden will, kann man nichts tun", erklärt Weichler-Wolfgramm.
Das klingt resigniert, doch im Bezug auf ihre Patienten verliert sie die Hoffnung nie: "Jeder Rückfall ist auch eine Chance. Wenn ein Patient danach wiederkommt, habe ich nicht versagt. Ich denke vielmehr, die letzte Behandlung hat wirklich was gebracht. Er ist ja zurückgekommen. Bei etlichen habe ich wirklich geholfen."
Barbara Weichler-Wolfgramm ist in Westberlin aufgewachsen. Ihr Vater war Fotograf. "Den Blick für besondere Sachen hat er mir beigebracht", sagt sie, schaut aus dem Fenster und zündet sich eine Zigarette an. Das Engagement für Obdachlose scheint sie jung zu halten: Nur wenige graue Strähnen ziehen sich durch ihre langen braunen Haare.
Vor zwei Jahren hat sie von der Gesundheitssenatorin bereits die Goldene Nadel für ihre ehrenamtliche Tätigkeit bekommen. Ihre eigene Praxis, die sie 1992 eröffnet hatte und wo sie Bedürftige kostenlos behandelte, musste sie aber vor einem Jahr schließen: Sie konnte Steuerschulden nicht bezahlen. Für die Zwänge der Steuergesetze hat die Ärztin wenig Verständnis. Sie findet das ungerecht, schließlich habe sie einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft geleistet.
Jetzt ist sie Frührentnerin und arbeitet zweimal pro Woche in der Ambulanz. "Erst werde ich gezwungen, meine Praxis zu schließen, und ein Jahr später krieg ich das Bundesverdienstkreuz", sagt sie mit sarkastischem Unterton. Die Auszeichnung empfindet sie als Wiedergutmachung. "Sie ist ein Hinweis, dass einige meine Arbeit doch geschätzt haben."
Von Kollegen, die nicht ehrenamtlich tätig sind, hält Weichler-Wolfgramm wenig. "Als Arzt muss man sich doch fragen: Geht es um die Versorgung kranker Menschen oder darum, sich eine Villa am Stadtrand zu bauen?" Für sie ist die Antwort klar. "Früher habe ich oft zur Vertretung in Praxen mit Marmortresen gearbeitet. Das fand ich langweilig. Ich wollte keine abgehobene Medizin machen. Ich wollte etwas, was näher dran ist."
Gegen das Geldverdienen hat sie grundsätzlich nichts; ihren Kollegen, der Experte für fernöstliche Medizin ist und mit den Privatleistungen gutes Geld verdient, findet sie goldrichtig. Einmal pro Woche kommt er in die Krankenstation und stellt sich in den Dienst der Obdachlosen. "Der macht das richtig, der nimmt es von den Reichen und verschiebt es an die Armen", sagt Weichler-Wolfgramm.
Um den Hals trägt sie ein kleines silbernes Kreuz, sie ist evangelisch. Doch ihre Motivation für die Arbeit ist nicht religiös. "Allein die Arbeit und die Herausforderung, so etwas aufzubauen, hat mich gereizt." Mittlerweile nimmt sie, um zur Arbeit auf der Krankenstation zu kommen, einen weiten Weg mit der Bahn auf sich, anderthalb Stunden hin, anderthalb Stunden zurück. Sie wohnt jetzt in Sachsen-Anhalt, in einem kleinen Dorf im Saale-Kreis. "Da ist es unendlich schön auf dem Land, das Leben ist friedlich. Ich habe 16.000 Patienten behandelt. Irgendwann will man auch mit Menschen nichts mehr zu tun haben." Von ihrer Arbeit lassen kann sie trotzdem nicht. Das Gefühl, gebraucht zu werden, kann auch süchtig machen.
Aber die bürokratischen Widerstände gegen ihre Arbeit gehen ihr gegen den Strich. Manchmal muss sie Leute fortschicken. Das macht sie nur widerwillig, doch selbst sie muss sich ab und zu an die bürokratischen Vorgaben halten. Denn um aufgenommen zu werden, braucht der Patient ein Attest. Weil sie zur Einrichtung gehört, kann sie die Hilfesuchenden nicht selbst einweisen. Also müssen die Leute wieder raus und sich beim Amtsarzt am Zoo das Schreiben holen.
Mehr noch als Bürokratie und Vorschriften ärgert Weichler-Wolfgramm die mangelnde Hilfsbereitschaft von Fachärzten. "Wenn Leute von draußen kommen, kann ich sie nicht an einen Facharzt überweisen, weil sie nicht versichert sind. Oft bräuchte man einen Experten und bekommt keinen." Dass andere Ärzte nicht ohne Bezahlung arbeiten wollen, kann sie nicht akzeptieren. "Und das, obwohl ich viele Kollegen noch von früher kenne. Da krieg ich so einen Hals", sagt sie und drückt wütend ihre Zigarette aus. Toleranz gegenüber anders Denkenden gehört nicht zu ihren Stärken.
Einige ihrer Kollegen bezeichnen sie sogar als "Nestbeschmutzer". "Als ich dann mit meiner Praxis insolvent ging, werden die sich gedacht haben, jetzt ist die endlich weg. Die werden sich über das Bundesverdienstkreuz geärgert haben. Die ist überhaupt nicht weg. Die ist immer noch da", sagt sie triumphierend.
Dann klopft es. "Hast du Zeit für einen Patienten?" Jemand hatte einen Rückfall. Genug geredet. Zurück zu den Taten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!