: Nuancen und Zwischentöne
KLANGKUNSTDas Festival mikromusik präsentiert zeitgenössische KomponistInnen, die sich mit Verbindungen und Wechselbeziehungen von akustischen Instrumenten, Stimmen, Raumklang und Live-Elektronik befassen
von Franziska Buhre
Zwei Jahre bevor die Unterscheidung zwischen sogenannter ernster Musik und Unterhaltungsmusik für die Verwertungsgesellschaften der Bundesrepublik mit dem Urheberrechtswahrnehmungsgesetz vom 9. September 1965 zementiert wurde, bescherte die Ford Foundation in New York einer anderen deutschen Institution mehr Weitsicht in musikalischen Fragen.
Mit der finanziellen Starthilfe aus den USA wird in Berlin 1963 ein Artists-in-Residence-Programm für Künstler_innen aus bildender Kunst, Musik und Literatur begründet, die ersten Gäste kommen aus anderen europäischen Staaten, den USA, Mittel- und Südamerika, Israel und Südkorea. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) führt das Programm durch, übernimmt es 1966 ganz und tauft es „Berliner Künstlerprogramm des DAAD“.
Julia Gerlach ist Musikwissenschaftlerin, Kuratorin, Publizistin und Herausgeberin, sie leitet die Sparte Musik des Künstlerprogramms seit 2012. „Wir konzentrieren uns auf experimentelle Formen von Musik, die aber in verschiedensten Bereichen auftreten können“, sagt Gerlach zur Ausrichtung ihrer Arbeit. „Ich verhalte mich sehr offen und versuche immer wieder, die vermeintlichen Ansprüche, was zeitgenössische Musik ist und wie sie zu klingen hat, abzuschütteln. In Brasilien zum Beispiel gibt es diese Trennung zwischen E- und U-Musik nicht, die Übergänge sind sehr viel fließender, in China spricht man eher von alternativer und kommerzieller Musik, zu der auch Klassik gehört. Ich strebe danach, solche Ausschließungsprozesse aufzulösen und bei Klangkunst inklusiv zu denken.“
Gerlach hat das Festival mikromusik 2014 ins Leben gerufen. Der Begriff ist ein Schlüssel, verschiedene Verfahren von Künstler_innen, aufzuzeigen, die die Tonsysteme der Konzertmusik erweitern und Übergänge schaffen zwischen akustischen Instrumenten, Stimmen, Raumklang und Live-Elektronik. Was bedeutet Mikromusik für das Hören? „Es geht um Nuancen und Zwischentöne“, so Gerlach. „Etwas hört sich anders an und die Abweichung ist spannend. Mit ihr kann man sich zufrieden geben. An mikrotonaler Musik kann man unterschiedliche kulturelle Einflüsse sehr gut erkennen, der Orient ist voll von Mikrotönen, ebenso die indische Musik.“ Insofern birgt mikrotonale Musik auch ein interkulturelles Moment, die eigenen Hörgewohnheiten zu hinterfragen.
Zur Eröffnung des Festivals spielt das Arditti Quartett in der St.-Elisabeth-Kirche eine Komposition von Iannis Xenakis, der 1963 Gast des Künstlerprogramms war. Die Töne gleiten in diesem Stück ineinander, die Mikrotöne entstehen durch die gestischen Bögen der Streicher. So werden eher Bewegungen hörbar als eine Abfolge erkennbarer Töne, was auch den Reiz des Stücks ausmacht.
An allen Festivaltagen ist die audiovisuelle Installation der britischen Komponistin und Klangkünstlerin Joanna Bailie, diesjährige Gästin des Künstlerprogramms, zu erleben. Die Sakristei der Kirche ist verdunkelt, Bilder vom Vorplatz werden umgedreht nach innen auf einen Screen gespiegelt, dazu verfremdet Bailie Außenaufnahmen von Klängen und gibt sie in neuen Sequenzen wieder. Am Sonntag wird ein Stück von Bailie aufgeführt, in dem Field Recordings die Grundlage für mehrstimmigen Gesang bilden.
Turgut Erçetin, Gast des DAAD aus der Türkei, führt am Sonntag erstmalig ein Stück für Stimmen und Live-Elektronik auf. Er hat sich die Frage gestellt, ob der Konflikt zwischen Türken und Kurden in den beiden unterschiedlichen Machtgefügen der Geschlechter wurzelt. Bei der Aufführung sitzen sich die Besucher_innen in zwei Gruppen gegenüber, hinter der einen singen Männer, hinter der anderen Frauen der Neuen Vocalsolisten Stuttgart. Beide Gruppen hören über eigene 4-Kanal-Systeme etwas anderes, mitunter mischen sich die scheinbar getrennten Klänge.
Das Berliner Künstlerprogramm erfreut sich internationaler Beliebtheit, im Bereich Musik werden von bis zu 220 Bewerber_innen pro Jahr drei Gäste ausgewählt. Julia Gerlach hat große Freude daran, Begegnungen der Gäste mit in Berlin lebenden Künstler_innen zu stiften und nutzt dafür ein dynamisches Netzwerk. Dazu gehören die Festivals Ultraschall und Maerz Musik, mit dem CTM-Festival hat sie dieses Jahr erstmalig kooperiert, die Plattform der Echtzeitmusikszene Labor Sonor heißt die Gäste ebenso willkommen wie das Ensemble Mosaik oder das Kammerensemble Neue Musik.
Bei mikromusik gibt es auch eine interessante fahrbare Weltpremiere: Die britische Klangkünstlerin Kaffe Matthews, die als erste Frau die Edgard-Varèse-Gastprofessur an der TU Berlin innehatte, entwickelte mit dem Berliner Gitarristen und Technologietüftler Sukandar Kartadinata sensorische Sonic Bikes. Vier Fahrräder sind mit Sensoren, Lautsprechern und GPS ausgestattet, die Route führt von der Villa Elisabeth zum Park am Nordbahnhof. Durch Fahr- und Lenkbewegungen werden Sounds erzeugt, auf dem Weg am Mauerstreifen erklingt eine Vokalkomposition von Matthews. Sie hat die Karte der Mauer um Westberlin auf ein Notenblatt übertragen und von vier Stimmen einsingen lassen. Danach können für zukünftige Projekte genutzt werden.
Der Vokalperformer David Moss ist nach seinem DAAD-Aufenthalt 1991 in Berlin geblieben. Ihm ist der Freitagabend gewidmet, höchstpersönlich wird er zum ersten Mal im Duo mit dem Videokünstler Lillevan auftreten, ein neues Stück mit dem Klangkünstler Sam Auinger aufführen und sich im Trio Denseland humorvoll austoben.
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