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Notizen aus dem KriegImmerhin schreibe ich Tagebuch

Unsere Autorin Polina Fedorenko und ihre Familie wollten eigentlich in Kyiv bleiben. Dann schlägt eine russische Rakete nebenan ein.

Nach einem Bombenanschlag in einem Wohngebiet in Kyiv am 15. März 2022 Foto: Vadim Ghirda/ap

Polina Fedorenko, 20, hat bis Dienstag mit ihrer Familie in Kyiv gelebt. Diese Schreibweise ihrer Heimatstadt ist ihr wichtig, sie entspricht dem ukrainischen Namen, nicht dem russischen. Fedorenko studierte früher Informatik. Als der Krieg begann, pausierte sie gerade mit dem Studium, sie wollte zu Soziologie wechseln. Sie arbeitete auch als Mathe-Nachhilfelehrerin für Kinder. Sie liebt Sprachen, gerade lernt sie Norwegisch. Sie überlegt, Deutsch zu lernen, weil ihre Tante und ihre Cousine nach Deutschland geflohen sind. Sie spielt gerne mit ihrem kleinen Bruder und mit ihrer Katze.

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Sonntag, 13. 3. 2022

Ein Korrespondent der New York Times wurde heute in Irpin getötet.

Ich habe darüber gelesen und dachte, es würde ein Nachspiel haben. Ich dachte auch, dass sein Tod zu größeren Sanktionen führen könnte als die vielen Toten in Mariupol, Charkiw und Mykolajiw.

Meine Freundin Elya schrieb vor rund einer Woche in einem Gruppenchat, dass der Tod von zehn Afrikanern mit dem Tod von zwei Italienern und dem Tod von einem Briten gleichzusetzen sei.

Ich frage mich, wie viele von uns wohl noch sterben müssen, bevor uns jemand dabei hilft, den Himmel von Raketen und Bomben abzuschirmen?

Ich war zum ersten Mal seit einer Woche wieder draußen.

„Meine Hände zittern“, schreibt Polina Fedorenko Foto: privat

Meine Mutter und ich trugen selbst gekochte Suppe zum Onkologiezentrum. Ich sah müde aussehende Onkologen, die seit mehr als zwei Wochen im Bunker leben.

Während wir nach Hause liefen, war es ständig laut über uns. Auf allen großen Straßen lagen Betonplatten, mit denen russische Panzer gestoppt werden sollen. Vor der Apotheke hatte sich eine Schlange gebildet. Es gab keine Medikamente für meine krebskranke Mutter mehr, dafür kaufte sie Tabletten gegen Kopf- und Magenschmerzen.

Mein Kopf tut in letzter Zeit oft weh. Ich bin erschöpft. Heute waren es nur fünf Stunden Freiwilligenarbeit, aber ich werde wahrscheinlich abends eine weitere Schicht übernehmen.

Die Nachrichten berühren mich nicht mehr. Ich schaue sie an wie ein Mensch, der ihren Sinn nicht versteht. Mein Gehirn zählt zwar die Toten, aber es begreift nicht, wie schrecklich das alles ist.

Ich habe Angst.

Vor kurzem war das noch anders. Wenn da die Zeitungen über Kriegsgefangene, tote Soldaten, getötete Zivilisten und Selbstmorde schrieben, berührte es mich. Es fühlte sich an wie ein persönlicher Verlust. Es war traurig.

Wen kümmert es, wenn noch ein Licht erlischt?

Jetzt sind die Zahlen dieser Geschichten dutzendfach höher. Doch ich lasse sie nicht mehr an mich heran. Denn wenn ich das täte, wenn ich mich emotional auf sie einließe, würde es mich in einen Ozean aus Traurigkeit stürzen.

Wenn ich um Mariupol weinte, das mich einst mit einem Brieffreund beschenkte und seiner Morgensonne, das mich mit dem weiten Meer und den freundlichen Bewohnern willkommen hieß.

Um Charkiw, wo ich so viele Dinge noch nicht erkundet habe und wo so viele wichtige Menschen leben und lebten, die jetzt mit ansehen müssen, wie ihre Stadt von russischen Soldaten zerstört wird.

Um Demydiv, wo ich nur ein Mal war und wo sich meine Verwandten zwei Wochen lang im Keller verstecken mussten, ohne Licht und Wasser, und später durch den Wald flohen und dabei hofften, nicht getötet zu werden.

Um Irpin und Bucha, wo ich in den grünen Parks, unter den hohen Kiefern und zwischen den niedrigen Häusern immer zur Ruhe fand.

Und jetzt berichten auch meine Freunde aus Dnipro, Lwiw, Iwano-Frankiwsk und Krementschuk von Explosionen und dem Alarm der Sirenen, der nicht aufhören will. Dabei dachte ich noch vor zwei Wochen, dass sie in Sicherheit seien und niemals physisch vom Krieg betroffen sein würden.

Meine Hände zittern.

Immerhin habe ich noch genug Medikamente, aber in fünf Tagen sind sie aufgebraucht. Ich hoffe, ich kann Antidepressiva in Kyiv finden.

Ich glaube, ich muss mir einen neuen Job suchen. Ich kann keine Kinder mehr in Mathe unterrichten, wenn sie im Ausland sind oder jede Griwna sparen müssen.

Ich würde gerne zeichnen.

Oder Produkte in Regale stellen. (Denn gerade ist alles, was mit dem Computer zu tun hat, untrennbar mit dem Blick in die News verbunden, wieder und wieder.)

Oder ich melde mich bei der Post, und helfe bei der Verteilung von Hilfsgütern.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Meine Familie braucht momentan kein Geld, aber meine Ersparnisse gehen zur Neige, weil ich bei allen Bitten um Hilfe, beim Kauf von Helmen, Autos und anderen Dingen, sofort zur Stelle bin. Am liebsten würde ich alles geben, was ich habe, aber das wäre unvernünftig, weil dann habe ich selbst nichts mehr und kann auch nichts mehr geben.

Deshalb muss ich einen neuen Job finden, um mein Konto wieder aufzufüllen. Einen Job, der so anders ist als das, was ich normalerweise mache. Auf den ich mich so sehr konzentrieren muss, dass ich alles andere um mich herum vergesse. Um nicht zum hundertfünften Mal zu dem Ergebnis zu kommen, dass wir Kyiv längst hätten verlassen müssen.

Ich spüre, wie mein ganzer Körper zittert. Ich höre, wie ich ein- und ausatme und ich höre das Ticken der Uhr.

Ich hoffe, dass wir mit jeder Sekunde dem Sieg näher kommen. (Aber der pessimistische Teil in mir weiß, dass wir bis dahin noch Millionen von Sekunden Krieg erleben werden.)

Ich weiß nicht, ob ich mich jemals wieder sicher fühlen kann.

Und wird das Verständnis für den Wert des menschlichen Lebens je zu mir zurückkehren? Denn jetzt verliere ich ihn, diesen Wert.

Ein Witz von Elya:

„Die Russen sind nicht unsere Freunde, denn Freunde findet man nicht so leicht.“

Als ich ihn höre, lächele ich zum ersten Mal seit einem Tag.

Montag, 14. 3. 2022

Es ist hart, über Mariupol zu lesen. Dass Menschen das Wasser aus Pfützen schöpfen, um kochen zu können. Dass alles in Flammen steht. Das ist die Hölle. Die Stadt ist unter Belagerung und Menschen sterben – ohne ärztliche Versorgung, Nahrung, Wasser, Wärme.

Ich habe heute schlecht geschlafen. Ab vier Uhr in der Früh wurde irgendwo geschossen. ­Gegen elf Uhr vormittags hat es sich so angefühlt, als ob die Fenster gleich zerspringen würden, und auch der Boden hat mehr als sonst gebebt.

Sogar nach den Evakuierungszügen nach Lwiw habe ich geschaut und auch Olya geschrieben und sie gefragt, ob sie mich und meine Schwester aufnehmen könne.

Dann haben wir uns doch dazu entschlossen, Kyiv nicht zu verlassen. Der Gedanke, vielleicht nie mehr nach Hause zurückzukehren, bringt mich um. Und auch der Gedanke, dass wir uns vielleicht trennen müssten, um gehen zu können. Auch das.

Mir ist klar, dass Kyiv bereits halb verlassen ist, aber es fühlt sich für mich an, als sei die Stadt voller Menschen. Zu viele Menschen, die in Schlangen vor den Läden und Apotheken stehen.

Ich habe einen Bericht über das Leben in den U-Bahn-Stationen gelesen, verfasst von einem Illustrator aus Kyiv. Der Bahnwärter wünscht eine gute Nacht – und all die Bewohner des Schachts antworten ebenfalls mit ‚Gute Nacht‘.

Angelya geht mit ihrer Schwester nach Spanien. Noch eine wichtige Person, die nun in Sicherheit sein wird.

Ich habe mir gestern Nacht George Orwells Buch 1984 angehört. Zwei Mal habe ich es bereits gelesen, aber so relevant wie momentan war es noch nie.

„Krieg ist Frieden

Freiheit ist Sklaverei

Ignoranz ist Macht“

Ich frage mich, ob die großen Diktatoren dieser Welt dieses Buch als Anleitung nutzen. Oder ist Orwell einfach ein genialer Soziologe, der es geschafft hat, die ganze Essenz eines diktatorischen Regimes zu beschreiben?

Ich schaue mir an, was in Russland passiert. Wie sie die Redefreiheit zerstören, die Freiheit der Gedanken. Wie sie der gesamten Welt ihr innerstes Wesen offenbaren – durch die Verletzung von Menschenrechten, den Verbot friedlicher Proteste, das Verbot von allem, was Menschen die Möglichkeit gegeben hätte, die Situation zu vergleichen. Orwells Ozeaniern war es nie erlaubt, den Fernseher auszuschalten. Sie wurden rund um die Uhr bewacht. Und nun kommt alles zusammen, was diese Geschichte sich wiederholen lässt.

Fast neunzig Kinder sind während des Krieges gestorben. Und unzählige Erwachsene. Ich kenne die exakte Zahl nicht, denn unsere Medien teilen sie uns nicht mit.

Heute sind wieder Luftraketen nach Kyiv geflogen. Das Antonow-Werk wurde beschossen – nur zwei U-Bahn Stationen von mir entfernt. Eine Rakete schlug in mein liebstes Stadtviertel Podil ein. Der Krieg ist heute etwas näher an mein Zuhause heran gerückt.

Einer unserer Nachbarn ist zur Territorialverteidigung gegangen. Ich fühle mich nutzlos in der Sicherheit meiner Wohnung.

Mir gehen komische Gedanken durch den Kopf: Mein Gehirn weigert sich, die guten Dinge im Leben derer zu akzeptieren, die nicht aus der Ukraine kommen, die nicht vom Krieg betroffen sind. Es mag schrecklich klingen, aber ich würde mir sehr wünschen, dass die Menschen in Anbetracht der Dinge, die hier passieren, aufschreien – denn in vielen Städten herrscht eine humanitäre Katastrophe, und die vereinbarten grünen Korridore werden vom Himmel aus beschossen.

Ich möchte, dass die gesellschaftliche Empörung, die in den ersten Tagen des Krieges da war, nicht nachlässt! Denn einen sicheren Himmel benötigen wir noch immer. Und jeden Tag entfernen wir uns weiter und weiter von der Möglichkeit, dafür von jemandem Hilfe zu bekommen.

Habe ich schon gesagt, dass ich müde bin? Meine Haare sind lang geworden, ich möchte sie abrasieren. Aber Mama ist gegen diese Entscheidung. Trotzdem werde ich mir heute die Schere nehmen und sie etwas schneiden, denn ich sehe aus wie ein Spaniel. Das will ich nicht.

Ich kann die Emotionen immer noch sehr schwer verarbeiten. Ich gehe alle Möglichkeiten für psychologische Hilfe durch und verwerfe sie wieder. Das Wichtigste ist jetzt, dass ich meine Medizin bekomme. Denn Antidepressiva können nicht abgesetzt werden, ohne die Dosis schrittweise zu reduzieren. Aber sie sind in Kyiv nirgends zu bekommen. Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Immerhin schreibe ich Tagebuch. Das scheint ein wenig zu helfen. Außerdem mache ich Yoga, wenn der Himmel abends ruhiger wird. Sich zu entspannen ist trotzdem sehr schwierig, denn mein ganzer Körper verharrt in dem Modus, jederzeit loslaufen zu können. Ich glaube, meine Angststörung kehrt langsam zurück.

In achtzehn Minuten werde ich mich wieder hinsetzen, um neue Nachrichten zu posten. Und so geht es weiter bis abends. Vielleicht werde ich dabei malen.

Was mich heute beruhigt hat: der Blog eines Harvard-Mädchens über eine Woche ihres Studiums. Ich will nächstes Jahr auch über Soziologie reden, denn ich habe das Gefühl, dass ich mich in mein neues Hauptfach verlieben werde.

Wenige Augenblicke später.

Ich weine. Auf Instagram gab es die Geschichte über ein kleines Mädchen, dem in die Hand geschossen wurde, als ihre Familie versuchte, sich aus Gostomel zu evakuieren. Zwei Tage lang erlaubte das russische Militär keinem Arzt, ihr zu helfen. Als das Mädchen schließlich ins Krankenhaus kam, konnten die Ärzte nichts anderes tun, als ihren Arm zu amputieren. Das ist so real für mich. Dieses kleine Mädchen hat jetzt wegen der Russen nur noch einen Arm. Ich fange wieder an zu weinen. Scheiße!

Dienstag, 15. 3. 2022

Ich bin am Bahnhof. Nachdem eine russische Rakete das Haus neben uns in Flammen gesetzt hat, haben wir uns dazu entschlossen, Kyiv zu verlassen.

Ich bin um 4 Uhr morgens aufgewacht und hatte Todesangst. Alles um uns herum hat gezittert und geschwankt. Ich kann mich nicht an die Geräusche erinnern. Sie waren sicherlich da, aber ich erinnere mich nur, wie meine Schwester schrie, und daran, wie ängstlich meine Mutter und mein kleiner Bruder waren, und an meine Großmutter, die Augen vor Schock weit aufgerissen. Wir haben verängstigt auf dem Flur gesessen. Da war diese absolute Stille nach der Explosion und nach den Schreien.

Meine Nachbarn haben meinen Vater gebeten, bei der Beseitigung der Schäden zu helfen. Es war ihm nicht möglich zu helfen. Aber er ist trotzdem hingegangen und zurückgekehrt – schockiert. Ich habe meinen Vater noch nie so nervös gesehen.

„Wir sollten die Stadt heute verlassen.“

Früh am Morgen nach der Sperrstunde sind meine Schwester und ich ebenfalls hingegangen, um alles mit eigenen Augen zu sehen.

Dort gab es kein Gebäude mehr. Nur ein großer Haufen schwarzer Kohle, gespickt mit Überresten von Vorhängen oder Möbeln. Dort gab es unzählige Feuerwehrleute und ihre Maschinen voller Wasser. Dort gab es kein Leben.

Ich habe mich noch nie so leer gefühlt.

Meine Schwester, meine Großmutter und ich warten auf den Zug, der uns evakuieren und zu dem Haus eines Freundes im Gebiet Iwano-Frankiwsk bringen soll. Meine Eltern und mein Bruder bleiben erst mal zu Hause, sie wollen nach der bis Donnerstagmorgen andauernden Ausgangssperre mit dem Auto fahren. Eineinhalb Tage, um das russische Militär daran zu hindern, tiefer in meine Stadt einzudringen. Eineinhalb Tage, in denen ich ständig auf mein Smartphone schauen und mit ihnen in Kontakt bleiben werde.

Ich will, dass wir alle in Sicherheit sind. Ich will sie in ein sicheres Dorf bringen, und dann will ich zurück nach Lwiw, wo ich ein Jahr gelebt habe, um mich an der Seite meiner Freunde als Freiwillige zur Verfügung zu stellen.

Ich will, dass wir gewinnen. Ich will, dass wir uns wieder sicher fühlen können.

Aus dem Englischen von Anna Fastabend und ­Frederike Grund

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