Normalzeit: Polit-Vagabunden
■ Von Helmut Höge
Die Obdachlosen, das waren früher die „Vagabunden“ – in den zwanziger/dreißiger Jahren hatten sie einen zum Kommunismus konvertierten Anarchisten als „König“: den bereits von Gorki, der ebenfalls jahrzehntelang herumgetrampt war, hochgelobten Gregor Gog.
Dieser heißt heute Gabriele Goettle. Auch sie wird im übrigen von vielen Großschriftstellern gelobt. Gog gab die erste Obdachlosen-Zeitung heraus, Goettle hat mit den heutigen nichts mehr am Hut. Und sie sind auch überflüssig – zumal seit ihrer bundesweiten Ausgabe: genauso eine Fehlentscheidung wie die Gewerkschafts-Fusionen, mit denen diese sich eher endgültig abschaffen – als adäquat auf Globalisierungen zu reagieren. Dafür sollten sie sich besser basisdemokratisch dezentralisieren ...
Apropos: Im schon fast aufgegebenen „Basisdruck- Verlag“ erschien dieser Tage ein üppiges gewerkschaftsfinanziertes Buch, in dem u. a. auch das Ende des „Königs der Vagabunden“ verhandelt wird. Es sind die Erinnerungen der Gabriele Stammberger: „Gut angekommen – Moskau!“ Sie war einst als bildungsbürgerliche Tempelhoferin vom Sohn des Ehepaars Käte und Hermann Duncker zum Kommunismus bekehrt worden und dann mit dem im Marx-Engels-Institut eingestellten „Haus- und Hofpropagandisten“ der KP, Walter Haenisch, nach Moskau gegangen, wo dann auch sie einen Sekretariats-Job fand. 1933 bekam sie dort ein Kind.
1935 wurde Haenisch wegen „antimarxistischer und antileninistischer Ansichten“ vom Institut entfernt, woraufhin er für eine Zeitung der Wolgadeutschen arbeitetete. 1936 verstrickte er sich in die Selbstdenunziationen der Exil-KPDler, 1938 wird er verhaftet – und wenig später erschossen.
Gabriele Stammberger nimmt eine Arbeit in einer Fabrik an. 1939 lernt sie Gregor Gog kennen, mit dem sie bald literarisch zusammenarbeitet. Er war nebenbei noch als Filmschauspieler in Moskau tätig und zählte zur Prominenz unter den Moskau-Emigranten. 1940 bekommt Gabriele Stammberger ihren zweiten Sohn. Ende 1941 wird die vierköpfige Familie nach Usbekistan evakuiert.
Nach 35 Tagen Fahrt im Güterwaggon kommen sie in Fergana an, wo man sie im Kolchos „8. März“ unterbringt. Die beiden Kinder sterben kurz darauf. Gregor Gog siecht jahrelang dahin. Nur selten schafft er es, was zu schreiben: meist über usbekische Themen (sein erstes Haschischrauchen beispielsweise), ferner Briefe und Tagebuch. Letztere sind in Gabriele Stammbergers Memoiren abgedruckt.
Auch sie wurde zwischendurch schwer krank. Nach ihrer Genesung beschließt sie aber, nicht länger auf den Rücktransport nach Moskau und die Hilfe der KP-Führungsriege zu warten, sondern sich in Fergana irgendwie einzurichten. Sie findet Arbeit und blüht auf, während Gregor Gog wegen der ausbleibenden Unterstützung der Genossen immer mehr verbittert, kränker wird und schließlich 1945 einen Selbstmordversuch unternimmt, an dem er stirbt – er wird in Taschkent beerdigt.
Gabriele Stammberger besucht ab 1946 die Abenduniversität und arbeitet als Bibliothekarin. Nach Stalins Tod, 1953, wird ihre „Verbannung“ aufgehoben. Ende 1954 verläßt sie Moskau – in Richtung Berlin, wo sie als „Politemigrantin“ entschädigt wird und eine Stelle im Dietz-Verlag bekommt. Dort macht sie jemand mit Fritz Stammberger bekannt, den sie dann heiratet.
Ihn hatte man für zehn Jahre in ein Arbeitslager bei Norilsk gesteckt, anschließend absolvierte er dort ein Fernstudium der Geologie. 1954 war er ebenfalls nach Berlin zurückgekehrt.
Die heute über achtzigjährige Gabriele Stammberger wohnt noch immer in Ostberlin, sie dürfte eine der wenigen sein, die noch alle KP-Größen persönlich kannte. Ein kommentiertes Personenregister am Ende ihrer Erinnerungen zählt sie alle auf.
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