■ Normalzeit: Wondergirls Von Helmut Höge
Früher gab es in den Berliner Messehallen die FBK – die Freie Berliner Kunstausstellung. Jeder konnte dort seine Kunst zeigen. Und im Endeffekt bekam man alljährlich ein fast komplettes Sittengemälde der Stadt geliefert. Dabei überwogen natürlich die Blumen- und Katzenbilder sowie naturalistische Ansichten von Straßen und Plätzen, mit Eckkneipen und Rentnern auf Bänken. Die jungen wilden Maler bzw. Bildhauer machten ihre Witze über diese Volkshochschulkunst aus Frohnau, Reinickendorf und Lichterfelde. Aber erstens waren sie tolerant genug, und zweitens lachten die Vorort-Malzirkel zuletzt, denn am Ende hatten sie lauter rote Punkte an ihren Bildern: verkauft!
Dann kam die Wende, die Hauptstadtlüge, der Abschwung Ost – und Berlin 2000 stand auf dem Programm. Aus der großen FBK wurde das „art forum berlin“ mit eigener Internet-Page. Natürlich mied ich fortan diese ranschmeißerische Scheiße auf Teppichböden. Aber das war ein Fehler – wie ich jetzt erst merkte, weil ich für Wladimir Kaminers Stand auf der Messe über Geldbeschaffungsmaßnahmen einige Fotos machen sollte, die dieser am Stand von Dr. Funken auf dem Art Forum aufnehmen wollte.
Ohne groß nachzudenken, stolperte ich hinter ihm her durch die Eingangskontrolle – und war überrascht: Erstens kannte ich etwa jeden dritten Besucher, und zweitens war alles so schön bunt und interessant hier, außerdem gab es alle fünfzig Meter einen Rotwein umsonst und alle hundert Meter einen Multiplikator mit einem Joint. Auch das trug zum positiven Gesamteindruck bei.
Statt Vorortmalzirkel präsentierten nun Galerien aus Stockholm, Moskau, Tokio, Madrid und Toronto Kunst, die sie für interessant genug hielten, um damit „die Berliner“ zu begeistern. Und diese waren mehrheitlich auch wirklich begeistert. Schon etwas angetrunken stand ich vor einem Schrank, da kam ein sympathischer Künstler an und bat mich hinein: Es war eine komplette Einmann-Disco. Ich beglückwünschte ihn zu seinem tollen Einfall – und für die saubere Ausführung. Man hätte sich bei so vielen Künstlern bedanken müssen! Einige hatten es aber auch übertrieben – und monatelang an einem Objekt gebastelt. Das sah zwar prima aus, aber die Arbeit, die da drinsteckte, war geradezu erschlagend.
Immer wieder stieß ich auf Gruppen grauer Anzugträger, reiche Kunstkäufer – nicht selten Amis, die kollektiv den Tauschwert abschätzten. Als Kunstinteressierter war ich dagegen nur am Gebrauchswert interessiert, d.h. am Ideengehalt, den ich mir kostenlos aneignete. Dennoch „handelten“ wir gemeinsam, quasi einträchtig, denn die Ideen, die mich fröhlich stimmten, das waren meist neue, die durchaus einem Trend gehorchen mochten – deren Gebrauchswert also einem steigenden Tauschwert unterlag.
Der durchgehende Trend auf dieser Messe waren junge Mädchen mit und ohne Schlüpfer – in Ton und Bild, letzteres meist als Foto, und wenn gemalt, dann oft als verhuschtes Foto. Man kann lange über diesen Trend zum realistischen Kindersex nachdenken. Wahrscheinlich ist es eine Reaktion auf das Eindringen von Millionen nicht mehr ganz junger Frauen – besonders in die Kultur- und Medienbranche. Egal, wo man hinkommt, ob Bangkok, Seoul, Bombay, Moskau, Hongkong, Berlin – überall wimmelt es von selbstbewussten, modischen Frauen, die hoch motiviert und überqualifiziert Männer an die Wand spielen, deren Stolz entweder am falschen Platz ist oder die am richtigen den falschen Stolz aufplustern. Gegenstrebig entwickelte sich dazu – in der Pornobranche – der „Gang-Bang“ (mit bis zu 220 Männern) zum beliebtesten Genre. In der fotznoblen Kunst ist dies das Girlie-Phänomen. Dazu passt, das drei Mädchen in Brautkleidern durch die Messegänge rauschten und Visitenkarten an schwarz gekleidete Männer verteilten, auf denen stand: „Marry Me“.
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