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Noemi Molitor Lebendige Linien

Immer der Linie nach bis Reinickendorf: Dagmara Genda, „Die Gelben Seiten“, 2024, geschnittene gelbe Seiten, Maße variabel Foto: © Dagmara Genda, VG Bild-Kunst, Bonn

Ach ja, das Jahresende und die Suche nach diesen bestimmten blaugrüngrauen Tannenzweigen. Besser gesagt, danach, wie es sich anfühlt, an ihnen zu riechen und durch die Zeit zu fallen. Mitten in die Erinnerung, die schon mit ausgebreitetet Armen da steht, um dich aufzufangen.

Beim Artist Talk, den ich im Dezember mit Monika-Maurer Morgenstern in der Galerie Mountains anlässlich ihrer Ausstellung „Monika Maurer-Morgenstern: Arbeiten aus 5 Jahrzehnten“ führen durfte, ließ die Künstlerin uns an Momenten aus ihrer Kindheit teilhaben und erzählte sie so, als seien sie gestern geschehen. Wie Maurer-Morgenstern als Kind draußen umhersauste, um ihre Mutter drinnen nicht zu stören. Dass ihr Kleid gelb war und sie sich im Gegensatz zu den anderen Kindern schmutzig machen durfte.

Monika-Maurer Morgenstern ist die bildhafte Vermittlerin der Auto-Fiktion in der Bildenden Kunst. Wir erlebten sie an jenem Adventssonntag als Dichterin der Skripte, als Regisseurin der Imagination. Selten wird Vorfreude so erhellend und eindringlich durch Zeichnung fühlbar gemacht wie durch ihre Amalgame aus Schrift und Strich. Die Galerie Mountains zeigte 40 der 48 Blätter ihrer Serie „Ich fahre nach Paris“ (1999/2000) in eigens angefertigten Vitrinen, die horizontal die Wände der Galerie entlang liefen. Einer Graphic Novel gleich fügte diese Präsentationswiese die einzelnen Zeichnungen zu einem sequentiellen Lese- und Seherlebnis zusammen, das wir immer und immer wieder abzulaufen suchten.

Unfassbar beglückt war ich dieses Jahr auch, als ich vor den Arbeiten von Kazuki Nakahara stand. Ich konnte sie im Laufe des Jahres sogar mehrmals erleben. Zum ersten Mal im Herbst auf der Positions Berlin Art Fair. In der Booth 30 zeigte die Gallery Inga Kondeyne seine feinen abstrakten Verläufe aus Buntstiften und Pastellen auf Papier: Ein Bildraum aus federleichten Kurven, Wellen und Auslassungen. Zu sehen waren Kazuki Nakaharas Werke neben Arbeiten von Johannes Regin. Regin versammelt auf seinen Bildern unzählige Punkte, die er auf grundierte Kartonplatten aufträgt oder in sie hineinsticht, dazu subtile Farbaktzente an den Rändern. Zwei Künstler also, die mit Spuren Flächen zum erlebbaren Raum machen – eine wunderbare Kombination.

Auf der Art Cologne schließlich zeigte Rupert Pfab die Arbeit „o. T. (K-R #01)“ von Kazuki Nakahara, die der Künstler dieses Jahr mit Farbstift, Graphit und Kohle auf handgeschöpftem Papier über ganze 180 x 285 cm wandern ließ. Bläulich-weiß und wandfüllend wies sie uns den Weg.

Wie viele Momente passen in ein Jahr? So viele, wie in einem Telefonbuch Namen stehen? In jedem Fall fühlen sich einige Momente an, als seien sie mindesten so dicht und erfüllt wie die unzähligen untereinandergedruckten Kontakte, die sich auf dem zarten grauen Papier des berühmten Verzeichnisses mit den gelben Buchdeckeln tummeln. Und Dagmara Genda? Sie hat „Die Gelben Seiten“ 2024 auf solch eine Art und Weise zurechtgeschnitten, dass sie sich als filigranes Relief vor der Wand auffächern. Präsenzen bleiben auch hier in Form einiger durchscheinender Namen. Doch wie bei Kazuki Nakahara sind es bei Genda die Ausslassungen, die den Bildraum zu tragen scheinen.

Zu sehen ist Gendas Arbeit als Teil der von Christy Wahl und Sabine Ziegenrücker kuratierten Gruppenausstellung „Reimagining Line. Zeichnen 3“ in der GalerieETAGE im Museum Reinickendorf. Die Ausstellung, die noch bis Mitte März 2026 läuft, ist übrigens auch eine Chance, Arbeiten von Kazuki Nakahara live zu sehen.

Wie auch die Linien von Anke Becker, Myriam El Haïk, Océane Moussé und Anna Roberta Vattes hier in der GalerieETAGE zum Leben erweckt werden und umgekehrt ihre Umgebung animieren, ist eines der Geschenke des Jahres.

Kazuki Nakahara, o.T. (K-R #01), 2025, Farbstift, Graphit und Kohle auf handgeschöpftem Papier, 180 x 285 cm Foto: Eric Tschernow; © Kazuki Nakahara

Bei einem Rückblick darf auch die Vorschau nicht fehlen. Ganz im Sinne der Maurer-Morgenstern'schen Vorfreude werde ich mir nämlich gleich im Januar Arbeiten von Liz Dawson anschauen. Wie sie ihre Arbeitsprozesse dokumentiert, hat mir dieses Jahr schon im digitalen Raum große Freude bereitet. Am 16. Januar eröffnet die Doppelausstellung „Madness and Practice“ von Liz Dawson und Lucy Teasdale (16. 1., 19 Uhr) dann im Kunstraum Axel Obiger live und in Farbe. Liz Dawsons Malereien, die auf collagierten Papiermodellen basieren und spürbar räumlich bleiben, und Lucy Teasdales monochrom auftretende Skulpturen, die dekonstruiert wirken und doch unfassbar wesenhaft daherkommen, am gleichen Ort – das wird sicher ein Fest.

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