: Nö, keine Probleme
■ Heute feiert im Schlachthof ein außergewöhnliches Opernprojekt des Schulzentrum „Am Rübekamp“ Premiere, bei dem sich Profis und Jungvolk ziemlich viel Zeit für das Thema Zeit nahmen
Fast nichts an der Oper „heart.brain.hamlet“ ist ganz gewöhnlich. Solosänger gibt es nicht. Handlung auch nicht. Dafür jede Menge Überlegungen; eigentlich könnte man das Ding einen theatralen Essay mit Musik nennen. Am merkwürdigsten ist aber die Entstehungs-geschichte. Ungewöhnlich viele Köpfe brüteten über ein halbes Jahr – wahrscheinlich auch Herzen; aber die brüten bekanntlich nicht, sondern schlagen. Und schon sind wir beim Thema Uhr und Zeit.
Peter Baier, der u.a. das Kulturprogramm der Angestelltenkammer managt, wünschte sich ein Stück, das junge Erwachsene dazu bringen sollte, sich mit dem Thema Zeit auseinanderzusetzen, und klopfte mit diesem Ansinnen bei Senta Bonneval, einst Schauspielerin der Shakespeare Company, Erwin Koch-Raphael, Kompositions-Prof an der Hochschule für Künste, Ingrid Galette-Seidl, Chorleiterin, und Ele Hermel, Mallehrerin im Bildungsverein KUBO und Bühnenbildnerin, an. Schließlich hat dieses Team schon vor zwei Jahren mit Koch-Raphaels „Kassandra“-Oper und letztes Jahr mit Bernsteins „Candide“ bewiesen, dass Jugendliche entgegen anders lautenden Gerüchten vor nichts zurück-schrecken, nicht mal vor der ernsthaften Erarbeitung so genannter spröd-sperriger Neuer Musik.
Senta Bonneval erinnerte (auch so eine Tätigkeit, die mit Zeit zu tun hat) sich an Shakespeare und die vielen schlauen Sätze in „Hamlet“ zum Thema Zeit, Vergänglichkeit, Zögern und das Glück des richtigen Moments, vor allem aus dem Munde Ophelias. Diese Zitate legte sie SchülerInnen der 12. und 13. des Schulzentrum Rübekamp als Appetithäppchen vor, die zum eigenen Texten zum Thema ermuntern sollten. Heraus kam mit ihrer Unterstützung eine Literatur irgendwo zwischen Besinnungsaufsatz, Kanzelpredigt und feingeschmiedeter, spätromantischer Lyrik.
In ihrer Funktion als Librettotext stellen die Texte aufgrund fehlender Dramatik eigentlich eine Zumutung dar, doch entzücken sie wegen ihrer MTV-untypischen Ernsthaftigkeit. Sie setzen sich damit auseinander, dass das Leben als Schüler und überhaupt nicht unbedeutende Ähnlichkeit mit dem Routinedasein eines Hamsters im Rad aufweist, und dass der gemeine Mensch Entscheidungen am liebs-ten so lange aufschiebt, bis sie sich erübrigt haben. Und der dahingealterte Zuhörer denkt gerührt: Das kenn ich doch. Wie schon das Kassandra-Projekt ist „heart.brain.hamlet“ ein Appell der SchülerInnen zuallererst an sich selbst, sich ihr Leben nicht aus der Hand nehmen zu lassen.
Senta Bonneval drückte Koch-Raphael einen ganzen Stapel dieser Texte in die Hand. Der war erst einmal schwer hingerissen, suchte sich seine Lieblingstexte aus und brachte sie in eine strenge Form: Chöre, Instrumentenstücke, Instrumentensoli statt Gesangsarien und nackte gesprochene Statements aus dem Lautsprecher sind blockartig gegeneinander gesetzt. Anbiederung an das, was man unter jugendlichem Pepp versteht, kann man dem Komponisten wirklich nicht vorwerfen. Zusammen mit der abs-trakten Choreografie von Senta Bonneval ergibt sich insgesamt ein meditatives Timing, das als Kommentar zur viel beschworenen Hektik unserer Tage zu verstehen ist.
Die jungen Erwachsenen im Chor und an den acht Instrumenten haben unterschiedliche Erfahrungen mit Klassik im Allgemeinen und Neuer Musik im Besonderen. Manche kann Chorleiterin Galette-Seidl schon mal zu den Musiktagen in Donaueschingen verschleppen, andere legen auf dem heimischen CD-Player doch lieber Frank Zappa und Pink Floyd (echt abgefahren postmodern) auf. Mit der Interpretation Koch-Raphaels Musik hatten sie aber „nö, keine Schwierigkeiten. Höchstens dass es länger dauerte, das auswendig zu lernen.“
Wie schon so oft fährt das Schulzentrum Rübekamp gut damit, ihre Zöglinge in Kunst tief hineinzuziehen und selber machen zu lassen, statt sie schnöde zu verordnen und als Lernstoff zu verhacken. Und bei den Proben geht es schnell und tough zu, wie sicher nicht bei allen Profiproduktionen. bk
Heute und 27. Juni, jeweils um 20 Uhr im Schlachthof.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen