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Archiv-Artikel

kucken sie mal: „Nobody Knows“ von Hirokazu Kore-Eda

Eine Mutter verlässt ihre vier Kinder! Die müssen ihr Leben selber meistern, zudem dürfen drei von ihnen die enge Zwei-Zimmer-Wohnung nie verlassen, denn keiner der Nachbarn soll erfahren, dass sie dort leben. Geld und Essen werden bald knapp, nach Monaten werden Strom und Wasser abgestellt, und die Kinder verwahrlosen immer mehr. Vor ein paar Jahren gab es einen ganz ähnlichen Fall in Deutschland - dort verhungerten die Kinder schließlich qualvoll. Auch dieser Film basiert auf einer wahren Geschichte, die vor einiger Zeit in Japan große Aufmerksamkeit erregte. Die Medien schilderten sensationslüstern das Martyrium der Kinder und verteufelten die Rabenmutter. Aber will man so etwas im Kino sehen? Muss ein Film über solch eine Tragödie nicht zutiefst deprimieren?

Der japanische Regisseur Hirokazu Kore-Eda hat mit „Nobody Knows“ das Gegenteil bewiesen. Obwohl er nichts beschönigt, ist sein Film eher eine poetische Meditation als ein pessimistisches Melodrama. Seine Kamera zieht förmlich mit ein in diese enge Wohnung: zwölf Monate lang zeigt sie, wie es den Kindern ergeht. Da auch für sie nicht viel Platz ist, muss sie dicht heran. Oft ruht ihr Blick in einer extremen Nahaufnahmen etwa auf einem kindlichen Fuß oder einer Kinderzeichnung an der Wand und betont dadurch die klaustrophobische Enge ihres Gefängnisses. In dem Jahr der Dreharbeiten sind die Kinder natürlich gewachsen. Yuyu Yagira, der den ältesten Sohn Akira spielt, entwickelte sich in dieser Zeit vom Kind zum Teenager und kam in den Stimmbruch. Nicht nur diese körperlichen Veränderungen dokumentiert der chronologisch gedrehte Film. Man spürt auch deutlich, wie vertraut die vier Kinder im Laufe des Jahres miteinander werden, wie ungezwungen sie miteinander umgehen, wie sie vor unseren Augen zu einer Familie werden. Aber dies ist auch ein Spielfilm, und man kann nachvollziehen, warum der 12-jährige Yuya Yagira im letzten Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde, wenn man miterlebt, wie natürlich und intensiv er immer mehr zum verantwortungsvollen Vater dieser kleinen Zwangsgemeinschaft zu werden scheint.

Schon zum Beginn des Films, wenn die Mutter ihrer beiden kleinen Kinder in Koffern in die neubezogene Wohnung schmuggelt, weil diese dort unerwünscht sind, wird deutlich, dass sie unreifer ist als ihre Kinder. Die fünfjährige Yuki und ihr zappeliger, ein Jahr älterer Bruder Shiger halten sich brav an die strengen Regeln, die ihre Mutter ihnen vorschreibt, während diese sich erst kaum um sie kümmert, spät Nachts betrunken nach hause kommt und später dann einfach fortbleibt.

Natürlich leiden die Kinder unter dem Mangel und der Langweile. In langen Einstellungen zeigt Kore-Eda wie sie immer das Gleiche spielen, und fernsehen. Aber es gibt auch immer wieder ganz erstaunliche Momente der Idylle und des Glücks, etwa wenn Akira seine Geschwister dann schließlich doch zu einem Spaziergang durch die sommerliche Stadt herauslässt, und sie ekstatisch auf einem leeren Spielplatz herumtollen. Natürlich läuft dennoch alles auf ein schlimmes Ende hin, aber dieses inszeniert Kore-Eda dann so dezent und sanftmütig, dass man nicht entsetzt ist, sondern eine viel tiefer gehende Wehmut empfindet, denn diesen vier Kindern ist man im Laufe des Films so nah gekommen als nur ganz wenigen anderen Menschen auf der Leinwand. Wilfried Hippen