■ Nigerias Demokratie-Experimente sind zu teuer: Eine Höhle hungriger Hunde
„Ich frage mich immer häufiger, ob es in diesem Land überhaupt noch eine Regierung gibt“, bemerkte letzte Woche ein Freund, als wir – wie dieser Tage überall üblich – wieder einmal über die erschreckend traurige Situation in Nigeria agonisierten, jenem so schwer heimgesuchten Land, das wir dennoch als das unsere schätzen. „Führ dir bloß vor Augen, wie in diesem Land alles, aber nun wirklich alles zusammengebrochen ist. Das gegenwärtige Regime hat das Land verraten, und dann ging es in Ferien.“
In Ferien? Gleichsam um die Aussage meines Freundes Lügen zu strafen, schrillten vom anderen Ende der Straße Polizeisirenen herüber; Polizisten mit steinernen Gesichtern, in höllischer Ausrüstung und schwere Schlagstöcke schwingend tauchten auf, und dann die begleitenden, glänzend neuen Motorräder der Vorreiter. Zwischen diesen exekutiven Terror gesandwicht Ihre Exzellenzen, die machtvollen Gesichter kaum sichtbar hinter den getönten Scheiben ihrer dahinrasenden Mercedesse.
Keine Hochrufe von den Straßenrändern. Niemand winkte ihnen zu. Ein drahtig-dünner, mittelalter Mann, dessen Rücken offensichtlich die Bürde eines Hundertjährigen getragen hatte, stach mit seinen Augen auf den vorbeifahrenden Konvoi ein, stieß einen langen, lauten Pfiff aus und rief: „Oole“ – Diebe!
Epoche des Zweifels
Der Ruf dieses Mannes klang keineswegs wie die Nationalhymne. Das war kein Lobruf von einem, den die Mächtigen gewöhnlich als ein Mitglied der „arbeitenden Massen“ zu bezeichnen pflegen. Es war eine bittere Verwünschung, die die Form einer Beleidiung annahm, ein durch und durch negativer cri-de-coeur. Es war eine nicht ganz so eindeutige Art, den Kaiser zu steinigen, ein öffentlicher Beweis der Abneigung, wie wir sie so häufig in den letzten Tagen des sterbenden Regimes von General Yakubu Gowon 1975 erlebten. Kaum verwunderlich, daß im Juli 1975, als General Murtala Mohammed und sein Team die Macht übernahmen, diese behaupteten, gehandelt zu haben, um das „Abdriften des Staatsschiffes zu verhindern“.
Doch noch nie hat sich Nigeria in einer ähnlich gefährlichen Lage befunden wie heute. „Angst“ hängt in der Luft. Eine Angst, die sich in tausend Ungewißheiten multipliziert. Ungewißheiten, die sich häufig in eine ganze Batterie von Zweifeln verwandeln: an uns selbst als betrogenen Opfern einer ungerechten Politik, an der Wirrheit des Lebens überhaupt und, vor allem, an der Situation des Landes, und an der Frage, wie lange diese Nation noch zusammenhält.
Nun ist es nicht so, daß diese Zweifel je sehr weit vom Zentrum nigerianischen Denkens entfernt gewesen wären, doch was das gegenwärtige Regime angerichtet hat, ist, diese Zweifel zu vertiefen, ihnen zusätzliche Klauen zu verleihen. Mit anderen Worten: diese Regierung hat die Vertrauensbasis zerstört; dies ist die Epoche des alles erstickenden Zweifels.
In diese Situation gebracht worden sind wir durch eine Vielzahl von Widersprüchen, deren wichtigster sich im Übergangsprogramm des Regimes selbst findet, in seiner Philosophie, Konzeption und in Ausführung. Denn wie konnte irgendeine Regierung nur glauben, sie könne Demokratie herstellen, indem sie das Entstehen zweier politischer Parteien verfügt, die Wahl von Parteimitarbeitern überwacht, die von ihr erfundenen Parteien endlos mit Geldüberweisungen verwöhnt, sich selbst das Recht vorbehält, zu entscheiden, wer am politischen Prozeß teilnehmen darf und wer gebannt sind? Das heißt, das Regime beraubte das Volk Nigerias der Möglichkeit zur wahrhaft politischen Wahl und Initiative.
Wie kann eine Regierung ein „demokratisches“ Paket von oben diktieren und dann hoffen, die Menschen auf dem Weg zur Demokratie „mitzunehmen“? Warum glaubt diese Regierung eigentlich, daß sie allein – wie die Schildkröte in der Fabel – alle Weisheit der Welt in einem Kürbisgefäß besitze? Wie lange kann eine Regierung, kann ein Mann eigentlich hoffen, ein ganzes Volk manipulieren zu können? Was hält diese Regierung von sich selbst und dem Volk, das sie regiert?
Nigeria befindet sich zur Zeit im Würgegriff zweier widersprüchlicher Philosophien: einer bürokratisierten, eng kontrollierten politischen Maschinerie, die wie in einem Joch an eine „deregulierte“, wildgewordene Wirtschaft angebunden ist. Wie können diese beiden Hämmel eigentlich aus derselben Schale trinken, ohne den zerbrechlichen Behälter zu beschädigen? Und dennoch wird das Jammern unserer schwer geprüften Wirtschaft völlig vom Lärm des gegenwärtigen Übergangsprozesses übertönt. Doch Übergang von was zu was? Was bedeutet ein politischer Übergang, wenn dieser nicht begleitet wird von einer drastischen Transformation der Wirtschaft? Uns interessiert nicht allein die politische Farbe eines Post-Babangida-Regimes; wir sind an der Wirtschaftschaftsform interessiert, die dieses Regime irgendwann einmal an diejenige Gruppe übergibt, von der man meint, sie sollte die Macht übernehmen.
In dieser Hinsicht sollten wir in höchstem Maße besorgt sein über die Kosten des gegenwärtigen Übergangsprogramms, die unersättlichen Forderungen der beiden Parteien, die enormen Kosten der beiden in den Sand gesetzten Vorwahlen, die wirtschaftlichen Auswirkungen einer immer wieder verschobenen Übergabe der Macht, die Millionen an Naira (lokale Währung), für die Herstellung von Wählerkarten, -registern, die ständig revidiert wurden. Wie rechtfertigt man eigentlich die Tatsache, daß ein überwältigender Teil des nationalen Vermögens auf solch unproduktive Vorhaben verschwendet wurde, wo doch in Zeiten des sogenannten „Strukturellen Anpassungsprogramms“ (SAP) des Weltwährungsfonds eigentlich die Prinzipien Sparsamkeit, finanzielle Disziplin und wohl gewähltes, produktives Investment gelten sollten? Zweifellos sind Nigerias demokratische Experimente die teuersten weltweit.
Übergang als Farce
Für die Mehrheit der Nigerianer bedeutet „Übergang“ nicht bloß einen Austausch des politischen Führungsstabes oder etwa die zeremonielle Einführung eines neuen, zivilen Regimes. Viel fundamentalere Probleme müssen angegangen werden: Nahrung für die Hungrigen, Jobs für die Arbeitslosen, gut geplante, bedeutungsvolle Bildung, menschenwürdige Behausung, effiziente medizinische Versorgung. Diese sozio-ökonomischen Probleme bilden die Grundlage unserer immer wieder aufbrechenden politischen Instabilität.
Wenn er diese Probleme nicht angeht, dann kann Präsident Babangida nicht glaubhaft versprechen, daß dies das letzte Militärregime in Nigerias Geschichte sein wird. Es gibt schon allzu viele Fallstricke für das künftige Zivilregime. Die Volkswirtschaft ist eine tickende Zeitbombe. Hungrige Hunde spielen nicht: sie bellen und dann beißen sie. Die letzten Jahre haben Nigeria in eine Höhle hungriger Hunde verwandelt. Unsere Welt hat ihr moralisches Zentrum verloren. Noch nie war das Land, das einst so stolz und aufrecht war, so hoffnungslos und gelähmt. Es wird lange dauern, bevor die Nigerianer wieder irgendeiner Regierung trauen werden. Niyi Osundare
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