: „Niemand weiß, was Entführer vorhaben“
Karlsruhe sollte das Luftsicherheitsgesetz stoppen, weil es ohne Grundgesetzänderung erfolgte. Das Grundrecht auf Leben ist verletzt, wenn Unschuldige aufgrund von Vermutungen geopfert werden, sagt Staatsrechtler Thomas Groß
taz: Herr Groß, das Bundesverfassungsgericht verhandelt am Mittwoch über das rot-grüne Luftsicherheitsgesetz. Dieses Gesetz erlaubt den Abschuss von Passagierflugzeugen, wenn diese von Terroristen entführt wurden. Werden die Klagen Erfolg haben?
Thomas Groß: Ja, ich gehe davon aus, dass Karlsruhe das Gesetz für verfassungswidrig erklärt.
Die Kläger bemängeln die fehlende Grundgesetzänderung …
Der Vorwurf ist berechtigt. Als Ende der 60er-Jahre der Einsatz der Bundeswehr im Innern zugelassen wurde, sollte dies nur in ganz seltenen Fällen möglich sein. Die Abwehr von Gefahren sollte Aufgabe der Polizei bleiben. Wenn die Politik heute gegen die Gefahren, die von entführten Flugzeugen ausgehen, die Bundeswehr einsetzen will, dann müsste sie zuerst mit Zweidrittelmehrheit das Grundgesetz ändern.
Rot-Grün berief sich auf Artikel 35 des Grundgesetzes: Die Bundeswehr kann „bei Unglücksfällen“ Amtshilfe leisten. Ist ein Terrorangriff kein Unglücksfall?
Dieses Argument ist ein Taschenspielertrick. Die Bundeswehr darf natürlich nach einem Unglücksfall Amtshilfe leisten, aber nicht schon vorher, um einen kriminellen Angriff zu verhindern. Da lässt das Grundgesetz eigentlich keinen Zweifel, dass das bisher nicht Aufgabe der Bundeswehr ist. Rot-Grün hat zu diesem Trick wohl nur gegriffen, weil man mit der Union nicht über eine Grundgesetzänderung verhandeln wollte.
Wie steht es um die Grundrechte der Flugpassagiere?
Das Leben eines Menschen ist für den Staat zwar nicht schlechthin unverfügbar. So darf die Polizei einen Geiselnehmer erschießen, wenn sie vermutlich nur so das Leben oder die Gesundheit der Geisel retten kann. Beim Abschluss eines entführten Flugzeuges werden aber nicht nur die Entführer getötet, sondern auch hunderte völlig unschuldiger Passagiere.
Ist das nicht dadurch gerechtfertigt, dass die Passagiere bei einem Anschlag wenig später ohnehin sterben müssen?
Nein. Solange ein Mensch lebt, steht er unter vollem staatlichem Schutz. Es weiß ja auch niemand, was mögliche Entführer vorhaben. Vielleicht sind sie nur psychisch krank wie der Mann, der vor knapp drei Jahren in seinem Sportflugzeug über der Frankfurter City kreiste.
Was aber, wenn die Entführer tatsächlich Terroristen sind, die einen Angriff auf ein AKW planen? Dann könnten doch tatsächlich weitaus mehr Menschen gerettet werden, als bei einem Abschuss des Flugzeugs ums Leben kommen …
Woher weiß die Bundeswehr denn, was die Entführer vorhaben? Bei den Anschlägen in New York hat niemand vorher angekündigt: „Wir fliegen jetzt ins World Trade Center.“
Und diese Ungewissheit macht das Luftsicherheitsgesetz unzulässig?
Ja. In der Regel kann man nicht sicher genug wissen, ob eine Gefahr droht, und wenn ja, welche. Das macht das Gesetz ungeeignet und damit unverhältnismäßig.
Verstößt der Abschuss von unschuldigen Menschen nicht auch gegen deren Menschenwürde, weil sie zum Objekt der Terrorismusbekämpfung gemacht werden?
So argumentieren manche Kritiker des Luftsicherheitsgesetzes, vermutlich weil die Menschenwürde im Grundgesetz absolut geschützt ist, während Eingriffe ins Lebensrecht unter Umständen möglich sind.
Und was denken Sie?
Ich glaube, dass hier das Recht auf Leben im Vordergrund steht – wie auch bei Einsätzen der Bundeswehr am Boden. Wenn stets die Menschenwürde verletzt wäre, wenn es absehbar zu unschuldigen Opfern kommt, dann wären Kampfeinsätze der Bundeswehr generell verfassungswidrig. Das ist offensichtlich nicht die Sichtweise des Grundgesetzes, das die Bundeswehr ja ausdrücklich einrichtet.
Ohne Luftsicherheitsgesetz werden entführte Passagierflugzeuge im Notfall trotzdem abgeschossen. Ist der Gerichtsstreit nur symbolisch?
Nein. Der Einsatz der Bundeswehr zum Abschuss eines Zivilflugzeugs wäre ohne gesetzliche Grundlage rechtswidrig.
Wenn Sie Verteidigungsminister wären: Wie würden Sie entscheiden?
In einer Prüfung für Kriegsdienstverweigerer wäre diese Frage unzulässig. Aber wenn Sie darauf bestehen: Ich würde die Verantwortung für den Abschuss eines Flugzeugs nicht übernehmen. INTERVIEW: CHRISTIAN RATH