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Nichtwählen? Oder was sonst?Wählen gehen trotz Abscheu

Kommentar von Ilija Trojanow

Wer lange nicht zur Wahl geht, der richtet sich ein in der Abscheu gegen die Politik. Aber ist Nichtwählen nicht feige? Warum es unterm Strich dann besser ist, die Piraten zu wählen.

W er seit Längerem nicht zur Wahl geht, gewöhnt sich daran. Der richtet sich ein in der totalen Wahlverweigerung. Der lehnt die parlamentarischen Parteien ab, der verzweifelt an der fehlenden Bereitschaft des Establishments zu jener umfassenden Veränderung, die nottäte.

Wer nicht zur Wahl geht, kann durchaus bewusst und überlegt nicht wählen. Er hat Sprüche auf der Zunge, die nicht die schlechtesten sind: "Wenn Wahlen etwas ändern würden, dann wären sie verboten" (angeblich von Rosa Luxemburg oder Kurt Tucholsky). Auch Argumente, die nicht so leicht vom Stammtisch zu wischen sind: "Parteien sind heute keine Agenturen von Veränderung, sondern die Oberpriester der Wachstumsreligion" (Harald Welzer).

Und der Nichtwähler fragt sich: Heißt es abstimmen, weil man seine demokratische Stimme abgibt und erst vier Jahre später wieder ausgehändigt bekommt? Was ist das für eine Vorstellung von Demokratie? Wie würden Sie eine Ehe bezeichnen, in der Sie nur einmal alle vier Jahre das Fernsehprogramm bestimmen dürften?

Bild: dpa

ILIJA TROJANOW ist Schriftsteller und Weltensammler. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Juli Zeh: "Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau der bürgerlichen Rechte" (Hanser Verlag, 2009)

Der Vergleich hinkt nicht so sehr, wie man zunächst meinen könnte. Denn die Gewählten ändern nach den Wahlen recht schnell mal das Programm. Schon könnte der Nichtwähler das nächste schlaue Zitat bemühen, dieses Mal vom Realo der ersten Stunde, Otto von Bismarck: "Selten wird so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd."

So dachte auch ich - bis mir kurz nach der Europawahl ein von mir hoch geschätzter österreichischer Schriftsteller den Kopf wusch. Nichtwählen sei feige, sagte er, denn man nutze nicht die Chance, Politik zu gestalten, und sei es auch nur, indem man den Stimmzettel ungültig mache, um Protest auszudrücken. Noch besser sei es aber, während man auf die Umwälzung der Verhältnisse warte, zwischenzeitlich das kleinere Übel zu wählen.

Nicht jeder würde dieser Ansicht zustimmen. Es gibt ja auch jene, die der Meinung sind, es müsse erst noch viel schlimmer werden, bevor es besser werden könne. Wie dem auch sei, ich beschloss, mir bei der Bundestagswahl genau zu überlegen, was ich mit meiner Stimme anstellen könnte.

Diese Einstellung bewirkt, dass man den Wahlkampf samt Reden, Disputen und Programmen genauer unter die Lupe nimmt, hat aber den Nachteil, dass man in seiner Skepsis, um nicht zu sagen Abscheu, bestärkt wird. Aber ich ließ mich nicht entmutigen und entsann mich eines Buches, das ich als Jugendlicher gelesen hatte: "Überlegungen eines Wechselwählers" von Sebastian Haffner. Was mir von der Lektüre in Erinnerung geblieben ist, erschien mir als Leitlinie meiner Wahlentscheidung von Nutzen: Such dir das Thema aus, das dich momentan am meisten berührt, bedroht, belastet. Und überleg dir, welche Partei diesem Thema am ehesten gerecht wird.

Für Haffner war es 1980 die Außenpolitik, weswegen er der SPD aufgrund ihrer Entspannungspolitik den Vorrang gab; für mich sind es die individuellen Freiheiten, die bei uns seit mehr als einem Jahrzehnt systematisch untergraben werden, der Datenschutz und die Verteidigung der Privatsphäre. Welche Partei also wird (bei allen Unwägbarkeiten) die Bürgerrechte am ehesten schützen?

Über die Option CDU/CSU musste ich nicht lange nachdenken. Schließlich stellt diese Partei eine Kanzlerin, die stolz folgenden Satz von sich gegeben hat: "Eigentlich läuft alles ganz prima, aber trotzdem brauchen wir mehr Überwachung." Da braucht man sich nicht wundern, dass die CDU mit dem Foto von Olaf Thon (neben einer Boxerin und einer Kickboxerin) für sich werben lässt.

Die FDP hat zwar in letzter Zeit ihre liberalen Instinkte aus der Reinigung geholt, und es wird sogar gemunkelt, dass die ehrenwerte Leutheusser-Schnarrenberger Justizministerin werden soll, aber in den Landesregierungen, an denen die FDP beteiligt ist, ist von überzeugter und überzeugender Verteidigung der Bürgerrechte wenig zu sehen. Ansonsten bietet die Partei neben Wachstumsgeilheit jede Menge weiteren Wahn. Sie zu wählen, hieße - in den Worten des besten deutschen Kabarettisten Volker Pispers - anzunehmen, dass "nur wer den Weg in die Scheiße gekannt hat, uns wieder herausführen kann".

Die Grünen formulieren in ihrem Wahlprogramm am klarsten, dass es ohne Umwelt- und Klimaschutz, Beendigung der Armut, der Ausbeutung von Ressourcen und Menschen keinen Frieden, also auch keine Sicherheit geben kann. Aber sie waren sieben Jahre lang an einer Regierung beteiligt, die in Brüssel die Einführung der E-Pässe massiv betrieb, und sie haben bei dem Abbau von Freiheitsrechten (Stichwort Otto-Kataloge) durch Ausschweigen und Mitlaufen Schande erworben.

"Ach", erwiderte mir neulich einer der Bundestagskandidaten dieser Partei, "da waren wir ja auch an der Macht", und trotz intensiver Studien seiner Gesichtsmuskulatur konnte ich nicht herausfinden, ob er den regungslosesten Humor seit Buster Keaton an den Tag legte oder ob er mit atemberaubender Ehrlichkeit zugab: Gute Absichten gelten nur außerhalb der Macht.

Auch Die Linke kritisiert in ihrem Programm manch eine Überreaktion im Bereich der inneren Sicherheit, aber wie soll man vergessen, dass sie zu großen Teilen von der PDS abstammt, die in ihrer früheren Avatara als SED die Bürger flächendeckend durch einen allgegenwärtigen, allmächtigen Stasi-Apparat überwachte und erniedrigte. Solange das Verhältnis dieser Partei zur ihrer DDR-Geschichte ambivalent ist (freundlich gesagt), bleibt sie für mich unwählbar.

Da bleibt nur, der aufmerksame Leser hat es bestimmt schon erraten, die Piratenpartei. Ihr Eintreten für die Bürgerrechte und die Freiheit im Netz ist (momentan noch) über jeden Zweifel erhaben; ebenso ihre Bereitschaft, den Datenschutz umfassend auszubauen. Zudem würde mit dieser Partei etwas virtueller Sachverstand in einen Bundestag ziehen, in dem manche sich "das Internet ausdrucken" lassen, während andere die E-Mail als Beispiel für modernste Informationstechnologie herausstellen. Und vor allem würde ein wenig frischer, hier und da vielleicht sogar anarchistischer Wind durch die verspiegelten Hallen der Macht pfeifen - und auch das täte not.

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4 Kommentare

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  • So ist die vom Kandidaten vertretene Position von vor der Wahl schnell vergessen und man kann wieder dreieinhalb Jahre "durchregieren" um danach in den Wahlkampfmodus zu schalten und sich dem Wahlvolk anzubiedern.

     

    Nein, da vertrete ich lieber offen meine Position. Die muß niemand teilen. Aber ich kann sehr wohl begründen warum ich nicht wählen gehe; und das ganz ohne Zitate. Wählen zu gehen - auch ungültig zu wählen - hieße das aktuelle System auf weitere vier Jahre zu legitimieren. Und wer sich an die mediale Hatz auf Nichtwähler bei den Bundestagswahlen 2013 erinnert, dem sollte aufgehen, daß es mehr Courage erfordert diesen Standpunkt zu vertreten als feige das kleinere Übel zu wählen um sich danach gegebenenfalls aufzuregen, falls es sich als das größere Übel erweist.

     

    Auch stelle ich mir einen Dialog in zwanzig oder dreißig Jahren mit meinem dann erwachsenen Kind vor. Kind: "Warum habt ihr denn damals die Bürgerrechte immer weiter aushöhlen lassen?" ... ich: "Es war alternativlos, das wurde uns so von höchster Stelle bestätigt. Aber du kannst dir sicher sein, daß ich immer das kleinere Übel von den zur Auswahl stehenden gewählt habe."

  • Aber glücklicherweise ist das heutzutage kein Problem. Denn das Wahlsystem schaffen sich die Mächtigen natürlich so, daß es Ihnen dient - man denke nur an Fünfprozenthürde und Überhangmandate. Und ja, ich kenne die vorgeschützten Gründe für erstere - finde diese aber fadenscheinig. Im Bundestag setzt sich das mit überaus demokratischen Instrumenten wie dem Fraktionszwang fort.

     

    Daß repräsentative parlamentarische Demokratie geradezu dogmatisch zur besten und einzig denkbaren humanen Herrschaftsform erklärt wird, sollte ja eigentlich Skepsis hervorrufen. Aber in einem Land in dem Meinungsfreiheit offenbar mehr den Zustand bezeichnet frei jeder eigenen Meinung zu sein, als die Freiheit zu haben seine Meinung offen vertreten zu können, wird Skepsis allenfalls bei einigen wenigen einsetzen. Allerdings ist es natürlich nicht verboten gegen seine eigenen Interessen zu wählen, womit sich die Wahlergebnisse der letzten Jahre und Jahrzehnte ja auch hervorragend erklären lassen.

     

    Vielleicht ist die Form in der ungültige Stimmen ins Endergebnis einfließen ja ein Unterschied zwischen dem österreichischen und dem deutschen Wahlsystem. Aber selbst in diesem Fall war die Anmerkung des Schriftstellers unpassend. Feige ist es allenfalls sich immer mit der Wahl des kleineren Übels zufriedenzugeben und dann noch zu meinen man gestalte damit irgendetwas. Die Logik dahinter ist so einleuchtend wie folgende: "ich wähle immer die kleinste Portion, wenn ich verschiedene Sorten Tierexkremente als Speise vorgesetzt bekomme". Na bravo! Zumal das kleinere Übel nach der Wahl manchmal zum größeren Übel wird. Denn man wählt ja Parteien und Parteimitglieder und nicht etwa Positionen. Ob die eigenen Positionen denen des Kandidaten entsprechen ist ohnehin fragwürdig; aber am Ende ist es ja sowieso ein Kandidat von vielen der dem Fraktionszwang unterliegt.

  • Dem hoch geschätzten österreichischen Schriftsteller, der Ihnen den Kopf wusch, möchte man entgegen, daß er etwa von Zwölfe bis Mittag denkt, wenn er meint ein ungültiger Wahlzettel ändere etwas. Ich vertrat früher eine ähnliche Position, nur leider ist es egal ob man zu doof war einen gültigen Wahlzettel zu produzieren, oder ob man ihn absichtlich ungültig macht. Das Wahlrecht - zumindest in Deutschland - unterscheidet nicht und bietet auch keine Möglichkeit den gebotenen Alternativen eine klare Absage zu erteilen (Stichwort: Nein-Stimme). Und in den 100% die sich die Parteien teilen, sind die ungültigen Stimmen dann schon nicht mehr enthalten. Inwieweit das eine Form der politischen Gestaltung ist, entzieht sich meiner ansonsten durchaus lebhaften Vorstellungskraft.

     

    Man stelle sich vor, diese Möglichkeit gäbe es und die absichtlich ungültigen Stimmen würden ins Endergebnis und die Sitzvergabe einfließen. Man stelle sich vor, daß 30% Nichtwähler zu den Wahlurnen stürmten um ihre absichtlich ungültigen Stimmen abzugeben und daß sich daraufhin die sogenannten Volksparteien mit maximal 70% der insgesamt verfügbaren Sitze zufriedengeben müßten, weil diese 30% absichtlich ungültig gemachten Stimmen natürlich einen großen Teil der insgesamt möglichen 100% blockieren.

     

    Das wäre eine Klatsche durch welche selbst bei all diesen überweisungsgebundenen Volksvertretern, die ihre Ideale schon vor Jahren oder Jahrzehnten beim Antritt der Ochsentour durch ihren Herkunftswahlkreis an der Garderobe abgegeben haben, möglicherweise ein Denkprozeß einsetzen würde.

  • F
    Frust

    Solange hier "Placebo- Demokratie" betrieben wird, sehe ich keinen Sinn im Wählen.Seit die Wirtschaft gemerkt hat, dass man fast jeden Demokraten für Geld haben kann, geschieht hier nichts mehr. Die verkaufen ihre Weiber,ihre Kinder und ihre Seelen. Warum sollten sie nicht die Demokratie verkaufen wollen. Das ist nur eine Sache des Preises.